Sünden der Nacht
etwas versprach, die von den Piloten der Hubschrauber durchgegeben wurde, verfolgten sie, hasteten von einer Stelle zur anderen wie Teilnehmer einer makaberen Schnitzeljagd.
Die Hubschrauber des BCA und die der Staatspolizei würden die ganze Nacht weiterfliegen, erneut jeden Zentimeter von Park County absuchen und mit ihren Rotoren die Stille der Winternacht zunichte machen. Aber wenn sie keinen Anhaltspunkt finden könnten, würden sie am folgenden Tag ihre Suche einstellen. Sie hatten ein Gebiet von zweihundert Quadratmeilen ohne Ergebnis überprüft, und keiner wußte, in welche Richtung die Suche ausgedehnt werden sollte.
Die Hotline-Telefone in der Einsatzzentrale läuteten ohne Unterlaß – zumeist waren es Anrufe besorgter Bürger, die sich über die Fortschritte der Suche informieren, oder ihre Angst und Wut über die Entführung zum Ausdruck bringen wollten. Keiner hatte irgend etwas zu melden, keiner hatte Josh gesehen. Es war, als wäre er von einer unsichtbaren Hand aus einer anderen Dimension einfach entfernt worden.
Die Uhr tickte. Sechsundzwanzig Stunden waren vergangen, und mit jeder einzelnen wuchs das Gefühl von Dringlichkeit und Panik. Vierundzwanzig war die magische Zahl. Wenn ein Vermißter nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden ausgemacht wurde, verringerten sich mit jeder verstreichenden Minute die Chancen auf Rettung.
Die Nacht hatte sich wie ein schwarzer Stahlvorhang über sie gesenkt. Der Wind wurde stärker, peitschte Roßschwänze von Schnee über den weißgedeckten Boden. Die Temperatur fiel stetig, sollte heute nacht einen Tiefstwert von minus 12 Grad erreichen. Kalt, aber Januarnächte konnten noch kälter werden, zehn, zwanzig, dreißig unter Null. Brutale Kälte. Bei jedem lauerte die Angst im Hinterkopf, daß Joshs Entführer ihn möglicherweise irgendwo zurückgelassen hatte, am Leben, aber in Gefahr an Unterkühlung zu sterben, bevor ihn jemand fand.
»Wir müssen das hier durchgehen«, sagte Megan mit einem Blick auf den Stapel Fotokopien in ihrem Schoß, den Kopien der Seiten aus Joshs Notizbuch. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß Joshs Entführer irgend etwas wirklich Belastendes darin zurückgelassen hat, aber wer kann das schon wissen.«
Mitch wandte sich ihr zu. Im Schein der Armaturenbrettbeleuchtung war sein Gesicht nur Kanten und Schatten, die tiefliegenden Augen hart und stet.
»Und wie steht’s mit der entscheidenden Frage?« sagte er. »Wo und wann hat unser Täter das Buch gekriegt? Es ist seit fast zwei Monaten abgängig. Wenn er es die ganze Zeit gehabt hat, dann haben wir hier ein Verbrechen mit jeder Menge Vorsatz.«
»Und woher hat er es? Aus Joshs Schließfach? Da könnte ein Schulangestellter in Frage kommen …«
»Jeder hat jederzeit Zugang zur Schule. Die Korridore werden nicht überwacht, und die Schließfächer haben keine Schlösser.«
»Josh könnte das Notizbuch auf dem Heimweg verloren haben«, überlegte Megan laut. »Jeder, der gerade die Straße entlangging, hätte es einfach aufheben können. Jeder, der bei den Kirkwoods war, hätte es mitnehmen können, wenn wir schon dabei sind.«
Mitch sagte nichts, als er den Explorer rückwärts aus der Einfahrt steuerte, dann nach Süden auf den Lakeshore Drive losfuhr und in östlicher Richtung die Ninth Avenue hinunter. Im Geiste stellte er eine Liste der Fragezeichen zusammen, die sich durch das Notizbuch ergaben.
»Wir müssen rausfinden, ob heute bei dem Treffen einer vom Schulpersonal gefehlt hat und ob jemand während der letzten sechs Monate gefeuert wurde. Dann brauchen wir eine Liste von allen Leuten, die seit Mitte November bei Hannah und Paul im Haus waren – Freunde, Nachbarn, Handwerker …«
Allein der Gedanke an den Arbeitsaufwand, die Langwierigkeit, den Papierkram war beängstigend. Und bei der Tatsache, daß der Täter ihnen ein Indiz zugespielt hatte und damit den Heuhaufen, den sie durchwühlten, noch undurchdringlicher und größer gemacht hatte, sah er rot.
Mitch fluchte. »Ich brauche was zu essen und ein Bett.« »Das erstere kann ich Ihnen bieten«, sagte Megan vorsichtig. »Ein Bett müssen Sie selber finden.«
Sie redete sich ein, daß sie das nicht gesagt hatte, weil sie seine Gesellschaft wollte und auch nicht, weil ihr bei dem Gedanken, allein in dieser Nacht in ihrer Wohnung zu sitzen, nicht gerade wohl zumute war. Sie war fast ihr ganzes Leben lang allein gewesen und fand das mittlerweile halb so schlimm.
Joshs Bild schwebte wie ein Geist vor
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