Sündenflut: Ein Merrily-Watkins-Mystery (German Edition)
wollte in der Schule übernachten, schon gar nicht die Lehrer, und in der letzten Woche vor Weihnachten versäumte man ohnehin nicht viel.
Auf der anderen Seite der Brücke hatte sich auf dem Parkplatz vor dem Gemeindezentrum eine Pfütze von der Größe eines Ententeichs gebildet, in der sich lila das Licht der Energiesparlampen aus dem Gemeindesaal spiegelte. Die Lichter brannten wegen der Gemeindeversammlung, die sicher nicht so gut besucht sein würde wie sonst, weil sie irgendwie ganz zufällig auf den verlängerten Weihnachtseinkaufsstag in Hereford gefallen war. Macht nichts, hatte Mom gesagt, und vermutlich hatte sie recht. Ein hinterlistiger Typ war er, dieser Kerl vom Gemeinderat, Lyndon Pierce.
«Janey?»
Der Strahl einer Lampe kam im Zickzack die Uferböschung herauf und spiegelte sich in vertrauten, dicken Brillengläsern. Jane grinste.
«Waren Sie schnorcheln, oder was, Gomer?»
Er kam vom Uferweg, stieg über den Zauntritt, in der Hand, die in einem abgeschnittenen Fäustling steckte, die alte Sturmlampe. Er war immer noch ziemlich fit für sein Alter.
«Was meinen Sie, gibt es Hochwasser?», fragte Jane.
«Oh, der tritt über die Ufer, das is ma sicher, Janey.»
«Wirklich?»
«Kannst auf ihn zählen.»
«Wann?»
«Heut Nacht oder morgen.»
Gomer stellte die Sturmlampe auf die Mauer. Das Licht fiel aufs Wasser.
Seine Brillengläser waren bespritzt, und sein feuchtes, widerborstiges weißes Haar erinnerte an Glasscherben.
«Sie meinen, wenn es wieder regnet?», sagte Jane.
«Nee, ich mein auf jeden Fall, Mädel.» Gomer steckte sich eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen. «Der olle Mond sitzt aufrecht in seim Sessel, verstehste?»
«Sessel?»
Jane sah Gomer prüfend an. Er zog seine Streichhölzer heraus.
«Wenner aufm Rücken liegt, sammelt er das Wasser. Wenner aufrecht sitzt, läufts aus, verstehste? Haste das noch nie gehört?»
«Äh … nein.»
«Habs zum erstenma damals von meiner Mam gehört, is jetz mindestens sechzig Jahre her. Am Wetter ändert sich im Grunde nie was, verstehste?»
«Doch, es ändert sich was, Gomer.»
Sie musste ungewöhnlich nüchtern geklungen haben, denn er neigte den Kopf mit der flachen Mütze und musterte sie.
«Globale Erwärmung? Isn Haufen Müll, Janey. Nur um beim Volk bisschen Wind zu machen.»
«Haben Sie die Bilder von den riesigen Eisklippen gesehen, die in der Antarktis abbrechen?»
Gomers Streichholz ging aus, und er zündete ein neues an.
«Ich sag ja nur, Mädchen, die Wissenschaft weiß auch nich alles, oder?»
«Ja, aber
irgendetwas
geht vor, weil, das ist doch noch nie passiert, stimmt’s?» Jane registrierte, dass ihre Stimme schrill klang; es war ernst – oben in den Midlands waren sogar Leute
umgekommen
. «Ich meine, haben
Sie
das schon mal erlebt? Das hier? Echt, hat hier schon mal eine Überschwemmung gedroht?»
«Nich zu meiner Zeit, da warn nur ab un zu mal die Straßen gesperrt, aber was is meine Zeit schon im Vergleich zum Leben vonnem Fluss?» Gomer sah zum Marktplatz hinüber, wo ein Christbaum leuchtete wie eine Fackel der Hoffnung. «Mach dir keine Sorgen, Janey. Swird lange dauern, bis das Wasser zum Pfarrhaus kommt.»
«Und was ist mit Ihrem Bungalow?»
Sie glaubte zwar nicht, dass Gomers Bungalow in der Flussniederung, also der natürlichen Überschwemmungszone des Flusses, lag, aber bestimmt ziemlich nahe dran. Er hatte immer gesagt, dass er dort nicht unbedingt hingezogen wäre, aber Minnie hatte die Aussicht gefallen.
Gomer sagte, er hätte einen von seinen Baggern runtergebracht. Das Wasser müsste schon ziemlich hoch stehen, bis man mit seinem JCB nicht mehr durchkam.
«Aber bei den armen Teufeln in der Neubausiedlung bin ich mir nich so sicher.»
Dabei nickte er in Richtung der neuen Häuser auf der anderen Seite der Brücke, von denen eines mit provozierend blinkender Weihnachtsbeleuchtung geschmückt war. Die Siedlung war vor ein paar Jahren gebaut worden und befand sich zum größten Teil in der Überschwemmungszone, allerdings konnte sich natürlich kein Mensch daran erinnern, dass es dort je eine Überschwemmung gegeben hatte. Aber das hätte auch niemanden gekümmert, für den Bezirksrat zählten nämlich nur die Wachstumsziele, die erreicht werden mussten.
Das war vermutlich eines der schlimmsten Dinge am Erwachsenwerden: Man konnte sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Verantwortlichen auf den entscheidenden Posten ihre Entscheidungen aufgrund von Vernunft und gesundem
Weitere Kostenlose Bücher