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Süß ist die Angst

Süß ist die Angst

Titel: Süß ist die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Clare
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hatte, ihn auf kriegsbedingten posttraumatischen Stress zu untersuchen. Aber nun, da er einmal begonnen hatte, schien er nicht mehr aufhören zu können. Seit er die Kiste mit ihren Sachen geöffnet hatte, wurden die Erinnerungen in seinem Kopf hintereinander abgespult wie ein schlechtgemachter Film.
    »Ich wäre besser nicht an die Tür gegangen, aber als ich draußen zwei Polizisten sah …«
    »Du hast ihnen vertraut.«
    Er nickte.
    »Außerdem war eine Sozialarbeiterin dabei, eine ältere Frau. Sie sagte, dass Mom etwas falsch gemacht habe und nun im Gefängnis sei und wir mit den netten Polizisten mitgehen sollten. Aber ich hatte Angst, dass Mom aus dem Gefängnis herauskäme und nicht wüsste, wo sie nach uns suchen sollte, also sagte ich, dass wir warten müssten, bis Mom wiederkäme. Gott, was für ein Idiot ich war.«
    »Nein, du warst ein Kind.« Sophies Stimme war leise und mitfühlend.
    »Die Sozialarbeiterin sagte, es würde lange dauern, bis unsere Mutter wiederkäme. Sie sei gekommen, um sich um uns zu kümmern. Dann nahm einer der Polizisten Megan auf den Arm und wollte mit ihr das Haus verlassen. Megan bekam Angst und fing an, zu schreien und nach mir zu rufen. Ich versuchte, sie dem Mann wieder wegzunehmen.«
    Lass sie los. Lass sie in Ruhe. Sie ist meine kleine Schwester!
    Er konnte noch heute sein eigenes jämmerliches Gebrüll und Megans verängstigte Schreie hören.
    »Aber er legte mir Handschellen an.«
    »Handschellen? Einem Zehnjährigen? Oh, Hunt!«
    »Ich war ein Satansbraten. Ich trat und schlug auf den Officer ein, der Megan festhielt, muss ihn sogar gebissen haben. Irgendwann setzten sie mich auf den Rücksitz des einen Streifenwagens und Megan, die noch immer den Schlafanzug anhatte, in den anderen. Das war das letzte Mal, dass ich meine Schwester sah, bis ich der Armee den Rücken kehrte.«
    Sophie wusste, dass er mit seinen Emotionen kämpfte. Seine Miene war ausdruckslos, während er sprach, aber sie spürte die Gefühle, die darunter lagen – Zorn, Verzweiflung, Einsamkeit, die Schuld. Sie sah das Kind vor sich, dem man so viel Verantwortung aufgeladen und das gekämpft hatte, um seine Schwester zu verteidigen. Wie hilflos er sich gefühlt haben musste, als man Megan in den Wagen gesteckt und sie fortgebracht hatte! Und dann die Trauer darüber, seine Familie verloren zu haben, seine Mutter im Gefängnis und Megan weiß Gott wo …
    Ihre Kehle verengte sich.
    »Das muss entsetzlich gewesen sein.«
    »Ja, das war’s. Ich habe mich im Streifenwagen übergeben.« Er stand auf, wandte sich von ihr ab und starrte auf die zugezogenen Vorhänge, als ob er durchs Fenster blickte. »Ich erfuhr, dass meine Mutter ihren Drink so nötig gehabt hatte, dass sie schon auf dem Parkplatz eine Flasche Pfefferminzschnaps runterkippte. Auf dem Heimweg hat sie jemanden überfahren und beinahe umgebracht.«
    Sophie stand ebenfalls auf, trat hinter ihn, schlang ihre Arme um seine Hüften und legte den Kopf an seinen Rücken.
    »Also kam Megan hierher – zu den Rawlings.«
    »Ja.« Seine Stimme war flach, leer. »Innerhalb eines Jahres hatten die Gerichte meiner Mutter das Sorgerecht entzogen, zumindest was Megan betraf. Sie wurde Megan Rawlings. Ich wurde von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht, denn ich war zu alt, zu wütend und zu anstrengend, um für eine Adoption in Frage zu kommen.«
    »Und du warst genau das, weil du bei deiner Mutter bleiben wolltest.«
    Er wandte den Kopf und sah sie misstrauisch an.
    »Ja. Besitzt du übersinnliche Kräfte?«
    »Nein. Das hast du mir vor zwölf Jahren erzählt, weißt du nicht mehr?« Seine Verwirrung verriet ihr, dass er es tatsächlich vergessen hatte. »Du meintest damals, wenn du brav gewesen wärst, hätte man dich deiner Mutter weggenommen, und das hätte sie nicht verdient, egal was sie angestellt hatte. Von Megan hast du mir allerdings nichts erzählt.«
    Aber da sie nun wusste, dass er eine Schwester gehabt hatte, verstand sie viel besser, warum er ein so schwieriger Teenager gewesen war. Er hatte seine Schwester verloren, hatte zusehen müssen, wie man sie aus dem Haus schleppte und …
    Und plötzlich verstand sie. »Darum geht es also, nicht wahr? Darum hast du sie nach der Armee ausfindig gemacht. Cross umgebracht. Hast alles getan, was du konntest, um ihr zu helfen. Darum bist du ausgebrochen und riskierst dein Leben, um sie zu finden. Du gibst dir die Schuld. Du gibst dir die Schuld an dem, was damals vor vielen Jahren geschehen

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