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Süß ist die Angst

Süß ist die Angst

Titel: Süß ist die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Clare
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legte seine große Hand über den winzigen Händeabdruck und spürte ein seltsames Ziehen in seiner Brust. Der Abdruck, den Megan hinterlassen hatte, passte in seine Handfläche. In den Gips hatte man das Datum gekratzt: 14 . Mai 1988 . Nur wenige Monate, nachdem man sie weggeholt hatte.
    »Wie süß. Sieh mal.« Sophie hielt selbstgemachten Weihnachtsbaumschmuck hoch, ein kleiner Rahmen an einem roten Band. Im Rahmen steckte ein Bild von Megan, die dem Fotografen ein schüchternes Lächeln schenkte. Ein Schneidezahn fehlte. »Was denkst du, wie alt sie hier ist? Sechs? Sieben?«
    »Keine Ahnung.« Die Worte klangen gleichgültig und kalt.
    Er wandte sich von dem Handabdruck ab, sah wieder in die Kiste und holte einen Stapel Kinderzeichnungen heraus. Ein dicker Goldfisch, drei blaue Schmetterlinge, die Umrisse einer Kinderhand, aus der man einen Truthahn gemalt hatte, etwas, das vielleicht die Arche Noah sein sollte, und jedes Bild war mit krakeligen Buchstaben unterzeichnet, die zusammen »M-E-G-A-N« ergaben.
    »Es ist schwer für dich, hm?« Ihre Stimme war sanft.
    »Ja«, antwortete er, ohne sie anzusehen. Er hatte gewusst, dass es ein merkwürdiges Gefühl sein würde, Megans Kindheit zu betrachten. Er hatte nur nicht erwartet, dass die Erfahrung so viele Erinnerungen heraufbeschwören würde, so viele vergessen geglaubte Gefühle, so viel Negatives. Er hätte gerne jemanden angeschrien, etwas zerschmettert, sich irgendwie abreagiert.
    »Sie liebt dich.«
    Marc wusste nicht, was er dazu sagen sollte, also sagte er nichts.
    »Ich habe mir meine Notizen durchgesehen, bevor ich zu dir ins Gefängnis kam, und festgestellt, dass sie dich bei jedem unserer Gespräche erwähnt hat. Sie hat mir erzählt, wie du ihr geholfen hast, wieder clean zu werden, dass du regelmäßig Geld auf ein Treuhandkonto überweist und wie du ihr immer wieder Mut gemacht hast, als sie auf Entzug war.«
    »Klar. Ich bin ein verdammter Held.«
    »Sie sieht dich so.«
    »Aber wir beide wissen ja, dass Megan nicht unbedingt klarsieht, nicht wahr?« Marc legte die Bilder auf den Tisch, stand auf und ging in die Küche, vorgeblich, um sich ein Glas Wasser zu holen. Tatsächlich aber brauchte er Abstand – oder am besten gleich eine Chance, sein Leben noch einmal neu zu beginnen.
    Was nur leider nicht geschehen wird, du Depp.
    Er beugte sich über die Spüle, drehte den Hahn auf, füllte sein Glas und trank.
    »Weißt du, was ich so großartig bei euch beiden finde? Obwohl ihr als Kinder getrennt worden seid und fast fünfzehn Jahre keinen Kontakt hattet, seid ihr euch trotzdem so wichtig. Megan war erst vier. Ich finde es erstaunlich, dass sie sich überhaupt an dich …«
    Marc rammte sein Glas auf die Theke.
    »Hör auf! Hör auf damit!«
    Er wandte sich zu ihr um und fühlte sich augenblicklich wie ein unsensibler Vollidiot. Sie starrte ihn verdattert an, in den Händen den Stapel mit den Zeichnungen.
Verdammt noch mal.
    »Tut mir leid, Sophie. Das hast du nicht verdient.«
    »Willst du mir erzählen, worum es geht?«
    Eigentlich nicht.
Er ging zum Tisch zurück, zog den Stuhl neben ihr hervor und setzte sich. Er holte tief Luft und rieb sich das Gesicht mit beiden Händen.
    »Hat Megan dir erzählt, wie das Sozialamt sie damals abholte?«
    Sophie schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß nur, dass es passierte, als ihre Mutter, eure Mutter, verhaftet wurde, weil sie zum zweiten Mal unter Drogen- und Alkoholeinfluss Auto gefahren war.«
    Marc erinnerte sich nur allzu gut an den Tag.
    »Ich kam von der Schule nach Hause. Als ich eintrat, saß Megan, noch im Schlafanzug, vor dem Fernseher, während meine Mutter schon ungeduldig auf mich wartete, sie sehnte sich nach dem nächsten Schluck. Sobald ich zu Hause war, kratzte sie zusammen, was sie an Kleingeld fand, und verschwand. Das hatte sie schön öfter getan.
    Sie kam lange Zeit nicht wieder. Megan bekam Hunger und fing an zu weinen. Ich machte uns eine Fertigpackung Makkaroni mit Käse und Brote mit Marmelade, das konnte ich damals am besten. Es wurde noch später. Ich versuchte, Megan ins Bett zu bringen, weil sie ja noch so klein war und Mom sie in meiner Obhut gelassen hatte, aber Megan wollte Zeichentrickfilme sehen. Ich wurde böse, sie auch. Dann bekam sie einen kleinen Anfall. Irgendwann klingelte es an der Tür.«
    Er konnte kaum glauben, dass er das Sophie erzählte. Er hatte noch nie darüber gesprochen, nicht einmal mit dem dämlichen Seelenklempner, den das Gericht damit beauftragt

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