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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
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mal kommt, das ist doch Humbug, sondern hingucken, was gerade los ist.«
    Annie wollte die Gelegenheit nutzen: »Genau, und jetzt gerade sollte man sich Gedanken über die Kirschernte …«
    Opa unterbrach sie: »Und ganz wichtig! In deinem Alter hat man es schwer, die Jugend ist so mühsam, man weiß gar nichts, das ist schlimm. Am Ende, das sag ich dir, ist es auch
beschissen, man weiß alles, aber die Knochen tun einem weh, das Hirn schrumpft, es ist furchtbar. Aber die Mitte, die ist gut. Wenn du sie also erlebst, diese Mitte, wo du schon weißt
und noch kannst, dann genieß sie. Genieß die Mitte, Kind!«
    Er fixierte missmutig den Friseur, der nach wie vor fasziniert zuhörte, zeigte auf seinen feuchten Kopf und fragte: »Ja und, was ist nun? Bist du fertig mit mir?«
    Der Schädel wurde endlich poliert, Opa ließ sich mit einem breiten Pinsel den Nacken ausputzen, zog seine Jacke an, zahlte und verließ mit seiner Enkelin den Salon. Während
der Rückfahrt ließ er sich auf keinerlei Gespräche über die Ernte ein.
    Daheim angekommen, musterte Nette ihren Vater, als habe sie Essig gesoffen: »Du hast ja ’ne Glatze.« Kurze Pause: »Oder hast du dir eine Chemotherapie machen
lassen?«
    Machen lassen, wie eine Dauerwelle. Die beiden hatten sich aufeinander eingeschossen, und Annie verstand nicht, wieso. Opa verengte seine Augen zu zwei Schlitzen
und meinte: »Ich kaufe mir noch Kontaktlinsen und fliege mit meinem Schatz in die Sonne, den Rum vor Ort probieren. Hab nämlich kürzlich meine Lebensversicherung aufgelöst und
bar abgehoben.«
    Nette blieb der Mund offen stehen, doch ihr Vater wurde immer lauter: »Und dir rate ich erstens, mal wieder was Ordentliches anzuziehen, und zweitens, wenn du einen findest, der blind
genug ist und taub dazu, dich mal wieder so richtig ordentlich …, ach was, nicht vor dem Kind.«
    Dieser halb fertige Satz ihres Vaters brachte Nette so auf, dass sie etwas tat, von dem der Apotheker später sagte, es hätte böse enden können. Blindwütig nahm sie
abgelaufene Eier, bereitete damit ein Tiramisu zu, stellte es zusätzlich für Stunden in die Sonne, während denen sie ihre Koffer packte, und schob die Speise kurz vor ihrer Abreise
wie vorgeschrieben in den Kühlschrank.
    Wie zu erwarten gewesen war, verschlang der Alte es noch im Stehen, er war geradezu süchtig danach, das wusste Nette genau, wohingegen Annie den Kaffeegeschmack verabscheute und es nie
angerührt hätte, das hatte sie bedacht. Der Apotheker sollte später Reste vom Nachtisch untersuchen und darin Salmonellen finden. Nette muss schon am Flughafen gewesen sein, als Opa
sich von der Toilette über das Waschbecken zum Bett und wieder zurück schleppte. Als er die Sache nach drei kritischen Tagen überstanden hatte, saß Nette an einer Strandbar auf
Kreta und trank ihr schlechtes Gewissen nieder.
    Annie saß erschöpft auf einem Stuhl in der Küche, schüttelte den Kopf, murmelte vor sich hin: »Es passiert zu viel.« War sie mit den Gedanken an ihre
verschwundene Mutter noch nicht fertig, flogen die Gefühle kurz hoch zur Ernte und kamen als Sorge um den Opa wieder herunter. Wie ihr ewiges Hin und Her in der Plantage, hoch und runter
trommelnd und schreiend: »Frieden, Frieden, Frieden!« Aber es nutzte nichts. Ihre Erwachsenen waren gnadenlos miteinander umgegangen, spöttisch der eine, gewaltsam die andere. Und
nun war ihre Mutter verreist, hatte sich nicht mal verabschiedet, hatte keine Nachricht hinterlassen, geschweige einen Termin für ihre Rückkehr bekannt gegeben. Es passierte wirklich zu
viel.
    Das Mädchen saß da und schüttelte sich, der Opa beinahe tot, die Ernte verdarb gerade, die Mutter auf der Flucht. War das, was sie getan hatte, versuchter Mord? Würde sie
ins Gefängnis kommen, wenn sie zurückkehrte? Würde sie darum nie wieder heimkommen?
    »Gehen Sie zur Polizei damit?«, fragte sie den Apotheker verstört.
    »Wir sprechen nicht mit denen«, winkte der ab.
    »Nein?«
    »Nein! Das tun wir nur im äußersten Notfall.«
    »Wer ist wir?«
    »Menschen, die Probleme auf eigene Verantwortung zu lösen versuchen.«
    Schüchtern wandte sie ein: »Eigentlich will ich selbst mal zur Polizei.«
    Er schaute sie neugierig an: »Wirklich? Und was willst du da machen?«
    Annie nahm allen Mut zusammen und holte zu ihrer Erklärung weit aus: »Also, im Winter sind bei uns eine Menge Leichen im Wohnzimmer, wenn ich fernseh.«
    Der Apotheker runzelte die Stirn, sichtlich irritiert.
    »Und

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