Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Schreiber
Vom Netzwerk:
anfällig waren sie, kein Wunder, dass Nette so viel Kummer
hatte. Doch jetzt schien sie die Nase gestrichen voll zu haben, es war die Zeit gekommen, wo kein Trost mehr half. Sie blieb im Bett und schlief oder zählte die vielen winzigen Blumen an ihrer
Tapete.
    Irgendwann ließ Opa Ninotschka zum ersten Mal frei laufen. Sie flitzte durch die Plantage, hatte nur ihre knappe Wäsche am Leib, und er lief hinterher. Annie
saß in diesem Moment vergnügt mit Galle unter einem Baum im Schatten, und von hier aus beobachteten sie unfreiwillig den jungen Alten, der durch die Reihen keuchte, sich
schließlich erschöpft ins Gras fallen ließ und vor Übermut schnaufte. Ninotschka pflückte eine Handvoll reifer Früchte und zerquetschte sie in ihrer Faust, der
dunkelrote Saft tropfte über ihre Finger, Hände, ihren Unterarm, und dann schmierte sie das alles ohne zu zögern auf Opas blütenweißes Hemd.
    Annie flüsterte: »Das kann er lange waschen.«
    Jetzt nahm Ninotschka eine zweite Handvoll Kirschen, drückte sie sich in die Haare, auf ihren Bauch, beschmutzte ihr Gesicht und leckte ihre klebrigen Finger ab. Galle grinste fröhlich
und guckte mit einem Mal völlig normal. Opa lachte vergnügt wie ein Junge in einer rasend schnellen Achterbahn. Nun stellte sich die Hübsche breitbeinig über seinen Kopf,
pflückte eine dritte Handvoll Kirschen, steckte sie sich in die Unterhose und setzte sich damit ganz langsam auf sein Gesicht. Der Saft floss in seine Augen, die Nase, den Mund und an seinen
Wangen über seinen Kopf und auf seine Brust, er bekam keine Luft, prustete und zappelte.
    »Ist das noch Kleckern oder schon Sex?«, fragte Annie.
    »Umlaute üben«, meinte Galle.
    Opa streichelte mit geschlossenen Augen die Schenkel seines Mädchens und schmiegte seinen triefenden Kopf an ihren Unterleib, Ninotschka stöhnte auf. Da nahm Galle Annie bei der Hand
und zog sie sanft fort, er war allemal vernünftig genug, hier nicht länger zu glotzen.
    Einen Tag später rief Opa seine Enkelin vom Feldweg aus mit der Autohupe. Wie so oft vertraute er ihr das Steuer an und ließ sie den Wagen über geteerte
Feldwege lenken, und Annie dankte ihm überschwänglich, wie immer, wenn sie fahren durfte.
    »Hast du sie denn wirklich lieb?«, fragte sie ihn nach einer Weile.
    »Ob ich mit ihr spiele? Ich bin selig, dass sie mit mir spielt! Nein, es ist mir ernst.«
    Er ließ sich von Annie zum Friseur chauffieren, nahm sie mit hinein und verlangte eine Rasur. Man wollte ihm schon die Wangen einseifen, da wies er auf seinen Kopf: Alles solle runter, das
sei jetzt cool. Opa sprach das Wort nicht auf die englische Art aus, wie kul , sondern kohl , wie den Kanzler. Eine Glatze zu haben sei kohl. Er hatte nie Englisch gelernt, so sprach er beispielsweise Talkshow aus, als sei es Kerzentalk. Talkscho . Er schämte sich
nicht dafür, im Gegenteil lachte er dabei, er lachte überhaupt ständig in letzter Zeit.
    »Ich muss dir unbedingt noch etwas sagen«, wandte er sich an Annie. »Meiner Meinung nach gibt es keinen Gott.«
    Sie fragte sich, was er mit dem Wort »noch« andeutete.
    »Im Krieg sind viel mehr Unschuldige als Schuldige verreckt, wie ungerecht kann ein Gott sein? Also gibt es ihn nicht. Kirschen kommen ja auch irgendwie auf die Welt, soll vielleicht das
Leben jeder einzelnen einen Sinn haben? Jede Frucht eine Bestimmung? Das ist doch Quatsch. Es gibt Befruchtungen, Bienen, Wind oder Sex, und Ende der Debatte. Kind oder Kirsche, alles derselbe
Salat. Das Werden , das sag ich dir, das Werden ist nicht das Problem, sondern das Auf-der-Welt- Sein .«
    Annie fühlte sich unwohl als Zuhörerin, Opas Bemerkungen passten vielleicht zu einer Ethikstunde in der Schule, nicht jedoch zur Lage einer Obstbauernfamilie mitten im Sommer. Die
Arbeit wartete, er aber philosophierte. Was meinte er um Himmels willen mit noch was sagen ? Wollte er fort? Musste er gar sterben?
    Den Friseur dagegen schien der Vortrag sehr zu interessieren, er unterbrach seine Arbeit, setzte sich neben den Spiegel und lauschte gespannt.
    »Das Kirsch-Sein«, trug Opa ihm und Annie vor, als habe er eine dringende Mitteilung zu machen, »das ist man entweder als Saft, verfault auf dem Müll, gequetscht im Kuchen
oder besonders edel in einer Praline drin. Das Mensch-Sein geht genauso, hopp oder topp, wo man sich im Leben wiederfindet, der Anfang ist Zufall, und am Ende ist Schluss. Die Leute sollten weniger
über das nachdenken, was einmal war und was vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher