Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
früher, mal
später, aber durchschnittlich fiel in dieser Gegend der erste Erntetag auf dieses Datum. Bestimmte Hormone teilten der Kirsche mit, wann sie sich für eine Trennung vom Stiel entscheiden
sollte, nur den Früchten war diese Gnade vorbehalten. Dank reichlich Sonne und wenig Regen konnte man dieses Jahr eine Rekordernte erwarten. Was allerdings fehlte, war ein Erwachsener, der die
Früchte inspizierte und Entscheidungen traf.
Annie klopfte an die Schlafzimmertür ihres Opas und rief hindurch: »Komm raus aus dem Bett, jemand muss sich um die Ernte kümmern.«
Doch er jauchzte von drinnen: »Die Kirschen hab ich mir abgewöhnt«, und lachte so laut und lange, wie sie ihn noch nie lachen gehört hatte.
Ihre Mutter war nirgendwo zu finden, weder im Haus noch in der Scheune oder im Garten. Schließlich entdeckte Annie sie an einer Kreuzung hinter dem Friedhof, dort rannte sie ungeschminkt
und sich die Haare raufend herum und schrie lauter als zuvor. Niemand wusste, was sie diesmal durcheinandergebracht hatte, und Annie hatte auch keine Lust mehr, es zu erfahren. Es war ihr peinlich,
dass Nettes Not in aller Öffentlichkeit zu sehen und zu hören war. Die lallte betrunken vor sich hin, ihre Kleidung war so verrutscht, dass ihr BH sichtbar war, Annie holte sie ein und
zog an ihrem Arm, bis ihre Mutter auf den Bürgersteig fiel. Doch die rappelte sich gleich wieder auf und wollte weitertoben, daraufhin hielt Annie sie mit beiden Armen fest und drückte
sie mit aller Kraft an sich. Die Erwachsene zappelte in den Armen ihres Kindes, krümmte sich, heulte und strampelte mit den Beinen, aber die Jugendliche hielt stand und drängte ihr im
wahrsten Sinne des Wortes eine Haltung auf. Die Dorfbewohner öffneten ihre Fenster, lehnten sich hinaus und schauten aufmerksam, was da wieder los war. Annie streichelte tröstend den Kopf
ihrer Mutter, holte ein Taschentuch heraus und ließ sie hineinschnäuzen, Nettes Muskeln entspannten sich, doch sie kam nicht zur Ruhe.
Der Apotheker hatte alles beobachten können, nun schloss er sein Geschäft ab, lud das heulende Elend auf eine Schubkarre und schob es mit Annie heimwärts, trug Nette in ihr
Zimmer, zog ihr die Schuhe aus und legte sie aufs Bett. Er schnupperte ihren Atem, schüttelte den Kopf und deckte sie zu.
»Isch ’m Kinderwagen, stundenlang. Nisch ’ekommen.«
Er schaute sich im Zimmer um, nahm eine Schachtel Beruhigungsmittel an sich, die ihn beunruhigten. Der Wirkstoff war zu stark, er stumpfte die Gefühle ab, sie hatte das Zeug illegal
beschafft.
Annie mochte diesen alleinstehenden Mann, der schon einige graue Haare hatte, aber doch jung wirkte. Wann immer sie als kleines Kind Lust auf was Süßes gehabt hatte, brauchte sie
bloß irgendwelche Wiesenblumen zu pflücken, in seine alte holzgetäfelte Apotheke zu gehen oder an Wochenenden an seiner Haustür zu klingeln und das Sträußchen mit
einem Lächeln abzugeben, schon rückte er einen Apfel, Bonbons oder Schokolade heraus. Diesen Dreh hatten irgendwann alle Kinder des Ortes rausgehabt, und jedes von ihnen bekam etwas
zugesteckt. Der Apotheker verlangte keine Gegenleistung, nahm die Sträuße an seiner Türschwelle an, gab seine Geschenke und schloss hinter sich zu – weil er viel Ruhe
brauchte und gern las, erzählten die Leute sich. Einmal im Winter, als Annie Heißhunger auf Süßes hatte und draußen keine Blumen wuchsen, hatte sie in ihrer Not ein
altes Stallfenster zerschlagen, auf dem sich in der kalten Nacht Eisblumen gebildet hatten, und war mit der Scherbe zu ihm gerannt.
»Gilt die auch?«, hatte sie mit laufender Nase gefragt. Er hatte bloß geschaut und gestaunt.
»Die halten nicht lang, nehmen Sie, schnell.«
»Danke für dieses besondere Geschenk«, hatte er geantwortet, die Scherbe mit ins Haus genommen und Annie eine ganze Tafel Schokolade gereicht.
Nun versuchte er Nette zu trösten: »Jeder Mensch schreit mal als Kind, jeder war mal allein. Das ist ewig her.«
»St … undenlang, im Kinderwagen.«
Annie packte ihre Mutter an den Schultern und schüttelte sie: »Was soll denn aus der Ernte werden?«
Doch Nette murmelte Unverständliches.
»Wenn niemand erntet, soll ich das dann tun?«
Der Apotheker zerzauste liebenswürdig Annies Haar: »Mädchen, lass die Früchte einfach fallen, du hast schließlich Ferien.«
Aber sie schüttelte eigensinnig den Kopf.
»Na, wenn du willst, pack es an. Und was machen wir mit deiner Mutter?«
»Sie braucht
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