Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
besser,
das wurde Annie hier drin.
Sie sollte in den dritten Stock, dreimal die Woche. Das Zimmer dort war noch kleiner als ihres, eine Couch stand darin, auf der sie nicht liegen sollte, obwohl sie es gern getan hätte, weil
es sie an zu Hause erinnerte, im Winter vor dem Fernseher. In der Ecke des Zimmers lag ein Haufen kleinerer Steine in verschiedenen Schattierungen und Oberflächen.
»Welcher Stein bist du?«, fragte die Pädagogin. Man saß sich gegenüber und musste sich anschauen, was Annie nicht mochte. Von dem Baby hatte sie sich gern direkt
anschauen lassen, von Galle auch, aber sonst von niemandem.
»Ich bin kein Stein, sondern ein Mädchen.«
Ein Satz nur, und schon lächelte die Frau, dafür wurde sie also bezahlt, dachte Annie. Sieben Worte für vielleicht hundert Euro oder mehr. Sollte das Arbeit sein? Bloß Worte
statt mit Händen mühsam geerntetes Obst? Sie fühlte sich innerlich tatsächlich verhärtet an, da hatte die Frau mit den Steinen gar nicht so falschgelegen, doch
ausführlicher wollte sie darüber nicht sprechen. Zugleich so schwer, als wäre sie in die Knie gegangen, k.o. geschlagen worden, zumindest sah sie in Gedanken einen Ringrichter
über sich, der abzählte, er war schon bei sechs oder sieben angelangt. Darüber hätte sie sprechen können. Dann hätte die Pädagogin fragen können, weshalb sie
auf einen Boxkampf kam und gegen wen sie angetreten war. Ihr fiel kein Gegner ein. Was konnte man hier noch sagen? Vanillepudding kann versehentlich mit Salz zubereitet sein, diese Aussage
hätte der Erzieherin zu denken gegeben. Weshalb ausgerechnet Pudding? Sie wusste es nicht, sie sagte nichts.
Diese Frau konnte unglaublich lang schweigen, ohne dass es sich unangenehm anfühlte, das war gut an ihr, sie verdiente ja prächtig, sogar dafür, nichts zu sagen! So fand Annie
endlich die Gelegenheit, über alles Geschehene für sich im Stillen nachzudenken.
Was war passiert? Die Kirschbäume waren zerstört, die Früchte heruntergefallen, viele Irre waren gekommen. Zum ersten Mal hatte sie sich nicht um die Ernte gekümmert, sondern
stattdessen ein Baby gepflückt.
»Du hast ein Kind auf die Welt geholt?«
»Hm.«
Und Fritzi, wo war die? Wo hatte sie um Himmels willen so viele zerstörerische Freunde hergeholt? Fritzi würde sich nicht einsperren lassen, die hätte diesen Leuten hier schon
längst die Finger gebrochen. Vielleicht sollte sie das auch mal üben. Ihr Gegenüber fragte nun, ob sie manchmal mit ihrer Mutter was unternommen hatte. Wenn die Frau weiter so
nervte, könnte sie ihr das Maul stopfen. Annie wurde unruhig, wie vermisste sie ihren leise singenden Bach, die Sonnenstrahlen im Gesicht, warm wie eine streichelnde Hand, die weiten
grünen Felder. Die Pädagogin quatschte weiter von Nette, doch Annie wollte das nicht hören, lief ein wenig im Zimmer auf und ab, was ihr guttat, schaute sich genauer um, lief nun
schneller, ihre müden Knochen kamen in Gang, sie nahm Anlauf und sprang hoch, war schon an der nächsten Wand, streckte das Bein aus und trat dagegen, lief zurück, trat auch dort
gegen die Wand und hinterließ deutlich sichtbare Schuhsohlenabdrücke, tat das einige Male, immer hin und her. Die Pädagogin schien sich zu erschrecken, aber Annie brauchte Bewegung,
unbedingt! Deshalb lief sie aus dem engen Zimmer, weg von den Steinen, raste durch die Flure, trommelte mit den flachen Händen gegen die Türen.
»Weg, ihr Scheißdrecksvögel, weg!«
Sie brüllte, wie sie in der Kirschplantage gebrüllt hatte, war endlich aus der Puste. In der Teeküche standen Säfte, die riss sie an sich, trank, verschüttete sie,
begoss sich damit, als wäre es frisches Wasser aus dem Bach oder Kirschsaftblut. Endlich tropfte es auf sie herab und verklebte ihr Haar. Nun griff sie sich einen Löffel, einen Topf,
schlug wieder los, lärmte, um die schädliche Sehnsucht nach ihren Leuten zu verscheuchen. Pädagogenhände wollten sie stoppen, schlugen ihr beim Wettlauf durch den Flur ins
Gesicht, runter den Flur und wieder hoch. Doch da kamen sie, Himmel, Arsch und Zwirn, dicke fremde Männer stürzten sich auf sie, zwei gegen eine, Arme hinter den Rücken, Kopf nach
unten, und machten ihrem Tumult ein Ende. Annie meinte, in diesem Moment sogar einen Piks im Oberarm gespürt zu haben.
Sie war die Nummer 116, ihr Spind hatte Sprechzeiten von 15-17 Uhr. Bitte halte dich an die Steinzeiten, piep piep lieb.
Annie konnte ihre Zahnbürste nicht finden. Auch sonst suchte
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