Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
sie dauernd nach etwas: Stickstoffdüngersäcke, den Schleifstein für die Sense, die Gewichte
für die große Waage, ihre Baumwollhose mit Reißverschluss oder Pfirsiche. Sie rief nach ihrer Mutter. Sie weinte, hatte Husten mitten im Sommer. Und sie träumte vom Papst, der
in einer kleinen Kirche war, sie wusste nicht, wo. Er hat lange blonde Haare, hinten hochgesteckt mit zwei Stäbchen drin, wie die Chinesen. Und er hatte Jeans getragen. Ihre Mutter
flüsterte ihr zu, dieser Papst sei bekannt für »schnelle Kirche«. Sie fragte nach, was »schnelle Kirche« sei.
»Na, der macht immer schön schnell, Vater unser in zwei Sätzen und fertig.«
Dann kündigte er an, man singe die 965, sie hatte noch versucht, das Gesangbuch aufzublättern, da wurde sie wach, was sie bedauerte. Annie hätte gern gemeinsam mit Nette und dem
Papst gesungen, aber ein Weckruf beendete den Traum. Sie quälte sich schwerfällig aus dem Bett, auch hier trug sie T-Shirt, Slip, Hose und Sandalen, doch brauchte sie inzwischen ganze
sieben Minuten, um sich anzuziehen.
Man beschnitt hier die jungen Menschen, begriff sie, wie man es mit Bäumen tat: die alten Triebe ab, den Pilzbefall heraus. Dagegen konnte sie nichts sagen, Bäume und Menschen lebten
davon auf. Doch zugleich wurden die Äste gebogen, gezerrt und gezurrt, bis sie kerzengerade standen und besonders viele Früchte trugen, die herrlich leicht zu erreichen waren und schnell
gepflückt werden konnten, man machte Menschen zu Spalierobst, sie sollten funktionieren und ansonsten das Maul halten. Es gab sicher bereits eine Kinderschüttelmaschine, fiel Annie ein!
Nette hatte sie zumindest nicht eingeschränkt, sondern sie zeitlebens einfach wachsen lassen. Gutes Essen, ein sauberes Bett, viel frische Luft, bei sich daheim hatte sie scheinbar von ganz
allein ihren eigenen Kopf gefunden. Ihre bekloppte Mutter hatte doch nicht alles falsch gemacht. Darum kam Annie zu dem Schluss, dass es für ein Kind selten so etwas Gutes gab wie eine
einigermaßen schlechte Mutter.
Da sie nicht beschnitten werden wollte, stellte sich Annie in diesem Haus selbst unter Naturschutz. Diese Idee hatte die Pädagogin mit den Steinen, zu der sie weiterhin
ging. So erklärte sich Annie feierlich zu einem vom Aussterben bedrohten Trommelpfeifer oder Brüllspecht und würde nun entsprechend gut auf sich achten. Sie gewöhnte sich an die
aufgezwungene Bewegungslosigkeit und lernte hier, so lange still zu sitzen wie noch nie, darum las sie nicht mehr nur kurze Zeitungsartikel, sondern auch stundenlang in dicken Lexika, die man ihr
gab. Wenn sie darin vertieft war, hielten die Erwachsenen ihren Mund, tuschelten vor Freude und machten sich Notizen für ihre Konferenzen.
Paula war noch nie so erschöpft gewesen, ihr Unterleib schien gerissen zu sein, brannte schrecklich. Nie hatte sie das erleben wollen, ihre Stimmung war so dumpf, dass sie
am liebsten hätte sterben wollen. Dazu dieses schrille Flehen des Kleinen, es war ihr unerträglich geworden, sie hatte das Kissen ja schon in der Hand gehabt, war drauf und dran gewesen,
für Ruhe zu sorgen! Erst im letzten Moment hatte sie sich selbst aus dem Haus geworfen, war geflohen, komme, was wolle, damit er vor ihr sicher war. Es sollte das Beste sein, was sie je
schaffen würde im Leben: ein anderes Wesen vor ihr selbst in Sicherheit zu bringen. Sie schleppte sich fort, so weit es eben ging, im Dunkeln querfeldein, bis sie im Graben zusammenbrach. Das
alles nahm sie in Kauf, wollte bloß vergessen und nur noch schlafen.
Doch es war wieder jemand gekommen, der für sie dachte, ein Mensch mit großen Augen, der mitfühlte und tatkräftig half. Sie aufhob und zu einem anderen forttrug, der sich
ihres Körpers annahm, ihr eine wohlige Spritze gab, von der sie entspannt in einen angenehmen Schlaf fiel. Hygiene, eine lauwarme gute Suppe, heiße Dusche und saubere Kleidung, ein Bett.
So waren ihre Wunden bald geheilt.
Sie hatte ihrem Gastgeber geschworen, sich etwas anzutun, wenn er sie den Behörden meldete, was er schweren Herzens akzeptierte, brachte so er seine Existenz in Gefahr. Und obgleich sie
einen ganzen Monat an jenem fremden Tisch aß und trank, im komfortablen Bett schlief, fühlte sie weder Befremden noch Dankbarkeit. Sie bemerkte nur das gute Ergebnis, nicht allein die
Heilung ihres Körpers, sondern zugleich die Linderung jeder Erregung durch ihr beharrliches Schweigen. Keine schlechte Laune mehr, keine großen Sorgen, auch keine Freude.
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