Süße Herzensbrecherin
ja.“
„Es gibt Armenhäuser, Armenschulen und Armenspitäler.“
„Die Armenhäuser sind entsetzliche Einrichtungen, aber dort zu leben ist allemal besser, als auf der Straße sein Dasein zu fristen, darin stimme ich mit Ihnen überein. Allerdings nehmen sie dort nicht alle Kinder auf, und die Hospitäler schicken Kinder unter sieben Jahren fort, es sei denn, es ist eine Amputation vonnöten.“ Cassandra lächelte bitter. „Was für traurige Zustände! Sind Sie sich bewusst, dass von sämtlichen in der Stadt zu Tode kommenden Menschen fast die Hälfte Kinder sind?“
„Nein, das war mir nicht bewusst“, erklärte William steif.
Er hatte sich bislang noch nie Gedanken über das Elend der Armen gemacht, zumal er bis zum heutigen Tag nicht mit Not leidenden Kindern in Berührung gekommen war. Sein Blick wurde düster. Miss Cassandra Greenwood hatte es tatsächlich geschafft, ihm ein schlechtes Gewissen zu bereiten und ihm das unerfreuliche Gefühl zu vermitteln, dass sein Lebensstil in gewisser Weise unangemessen war.
Sie begutachtete den fertigen Verband, bevor sie sich aufrichtete und ihm erneut fest in die Augen sah. „Ich bin nicht hochmütig, Sir, nur fest entschlossen, fortzuführen, was mein Vater begonnen hat. Und wenn Sie darin einen Fehler sehen, tut es mir leid.“
„Nein, Miss Greenwood, ich kann keinen Fehler darin sehen. Ihre Worte zeugen von Mut und Tapferkeit. Diese Eigenschaften sind höchst löblich, um nicht zu sagen bewundernswert.“ Er stemmte sich von der Matratze hoch und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass der letzte Anflug von Schwindel vorüber war.
Cassandra hielt den Atem an, als er plötzlich in voller Größe vor ihr stand. Seine schlanke, hohe Gestalt überragte sie um mehr als Haupteslänge. Ohne ihn anzusehen, half sie ihm in seinen ruinierten Reitrock. Dann sammelte sie geschäftig die von Dr. Brookes verwendeten Instrumente ein.
William beobachtete sie dabei. Sein Blick glitt anerkennend über ihre schlanke Figur, ruhte auf den reizend gewölbten Brüsten, die selbst der strenge Schnitt ihres Kleides nicht zu verbergen vermochte, und wanderte schließlich zu ihrem honigblonden Haar. Verblüfft stellte er fest, dass es ihm förmlich in den Fingern juckte, den straffen Knoten zu lösen, durch die seidig weichen Locken zu fahren und die entzückende Wölbung an ihrer Kehle zu liebkosen, die von der kleinen Brosche am Halsausschnitt des Kleides vorteilhaft betont wurde. Er kannte sich aus mit dem anderen Geschlecht, Frauen ihres Standes indes waren ihm nicht vertraut. Er hatte sich bewusst nie mit ihnen abgegeben, doch diese hier weckte seine Neugierde.
Kaum war er zu dieser Einsicht gelangt, hörte er die Warnglocken in seinem Kopf in ohrenbetäubender Lautstärke läuten. Er wusste, er würde diesen Ort auf der Stelle verlassen müssen, um die unwillkommenen und alles andere als freudvollen Gedanken zu zerstreuen, die sich ihm aufdrängten, sobald er zu verstehen versuchte, weshalb eine attraktive Frau wie Cassandra Greenwood ihr Leben in diesem traurigen Institut für Straßenkinder vergeudete.
Er war ein gescheiter und vernünftig denkender Mann – ein Gentleman aus gutem Hause, der zu dem stand, was er tat, und seine Ziele kannte. Er war stolz auf seinen gesunden Menschenverstand, der ihn vor Gefühlsduseleien bewahrte. Umso größer war der Schock ob der Erkenntnis, dass er mehr über Miss Greenwood erfahren wollte. Er, William Lampard, der weltgewandte und zu militärischen Ehren gelangte Earl of Carlow, der den Londoner Klatsch am Leben hielt durch seine Skandale, hatte Angst vor den Auswirkungen, die die Bekanntschaft mit Cassandra Greenwood womöglich auf ihn haben würde.
„Sagen Sie, gibt es kein Kuratorium, dem Sie Rechenschaft ablegen müssen?“
Cassandra hielt in ihrer Arbeit inne und sah ihn mit ihren blaugrünen Augen freimütig an. „Kuratorium? Oh ja, es gibt vier Treuhänder, die das Kuratorium bilden: Dr. Brookes, einer seiner Kollegen aus dem Krankenhaus, meine Mutter und ich.“
„Ich verstehe. Ich dachte mir bereits, dass Sie sehr selbstständig sind, Miss Greenwood.“
„So ist es. Ich bin niemandem rechenschaftspflichtig, weder in dieser noch in irgendeiner anderen Angelegenheit.“
„Es steht nicht einmal ein potenzieller Ehemann in Aussicht?“
„Nein. Ich schätze meine Freiheit und Unabhängigkeit – die ich mit einem Ehemann an meiner Seite höchstwahrscheinlich einbüßen würde.“
„Das hängt von dem Ehemann
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