Summer Westin: Todesruf (German Edition)
wenn sie die Wahrheit nicht verstanden, würde er ihnen Bescheid stoßen. Er würde ihnen sagen, wie die Wirklichkeit aussah, was gut und was schlecht war. Jeder hatte das Recht auf eine eigene Meinung, aber irgendwelchen Bockmist würde er ihnen austreiben. Jedenfalls, solange er hier das Sagen hatte.
25
»Der Hund hörte nicht mehr auf zu bellen, also bin ich raus, um nachzusehen, was los war. Da habe ich in einer Ecke des Gartens das Opossum gefunden«, sagte Stephanie Faber und legte vorsichtig Gabel und Löffel aus echtem Silber auf eine zusammengefaltete Stoffserviette.
Sam stellte einen Teller auf die geblümte Tischdecke. Schweißtropfen rannen ihr vom Nacken zwischen den Schulterblättern hinab und trafen sich im Verschluss ihres BHs mit weiteren und bildeten einen regelrechten Sumpf.
Ihr Vater und Zola hatten sich für ihr Festessen vor der Hochzeit ein zwangloses Beisammensein gewünscht, zu dem jeder etwas beisteuerte. Für Sam war es ein Déjà-vu-Erlebnis, an einem drückend heißen Sommerabend Teller an die frommen Damen der Pfarrgemeinde und deren Töchter auszuteilen. Nur war sie damals eins der Kinder gewesen, und mit den heutigen Damen war sie damals auf die Highschool gegangen. Sie beneidete die Frauen um den unbeschwerten Umgang untereinander. Sie kannten sich so gut, dass sie nicht lange erklären brauchten, wovon sie sprachen. Sam schlossen sie mit ein, weil sie seit ihrer Geburt eine der ihren war, den Geschichten konnte Sam allerdings nicht mehr wie früher folgen. Bislang hatten sich die Diskussionen darum gedreht, wie teuer der Schulbedarf geworden war, und um die Frage, ob eine ältere Frau im Krankheitsfall ein Angebot, ihr beim Putzen des Hauses zu helfen, dankbar annehmen oder als Beleidigung empfinden würde.
»Bei genauerem Hinsehen musste ich feststellen, dass das Opossum gerade Junge zur Welt brachte«, fuhr Stephanie fort.
Sam war neidisch. Gern wäre sie jetzt irgendwo anders gewesen und hätte einem Opossum beim Gebären zugeschaut. Die Entwicklung der Babys war bei der Geburt noch nicht voll abgeschlossen, deshalb kletterten sie sofort in den Beutel ihrer Mutter und verbrachten dort die erste Zeit. Oder schubste die Mutter ihre Babys irgendwie hinein? Na egal, ein besonderer Anblick wäre es auf jeden Fall.
»Madison.« Stephanie dirigierte ihre elfjährige Tochter an ihre Seite. »Die Serviette.« Sie nickte zur richtigen Stelle neben dem nächsten Teller.
»War John nicht da?«, fragte Zolas Tochter Julie gleichzeitig mit Cathy Wakebutters Einwurf: »Und was hast du gemacht, Steph?«
Stephanie erzählte weiter. »Der Hund hörte nicht mehr auf zu bellen, und John war nicht zu Hause, deshalb bin ich in die Garage, habe eine Schaufel geholt und auf das Opossum eingeschlagen.«
» Was? « Sam hörte mitten im Tischdecken auf.
Die drei Frauen und Mädchen starrten sie überrascht an.
»So etwas bringst du deinen Kindern bei? Unschuldige Geschöpfe mit einer Schaufel zu erschlagen?« Sam starrte Stephanie entsetzt an.
Madison blickte von ihrer Mutter zu Sam, dann wieder zu ihrer Mutter, und erneut zu Sam, als folge sie einem Tennisspiel.
»Summer.« Wie aus dem Nichts war ihr Vater aufgetaucht und nahm ihr die übrigen Teller ab. »Zola braucht dich drinnen.«
Wütend stolzierte Sam auf das Haus zu, bemüht, nicht allzu fest mit ihren neuen Sandalen aufzustampfen. Sie trug das kühlste ihrer drei Kleider, ein Sommerkleid mit Blumenmuster, das aus ihrer Zeit auf dem College stammte. Sie hatte es auch schon bei früheren Besuchen getragen, hoffte aber, dass sich ihre Klassenkameradinnen nicht mehr daran erinnerten.
Vor ihrem linken Ohr bahnte sich ein Schweißtropfen den Weg nach unten. Seit dem Waldbrand war ihr nicht mehr so heiß gewesen, und nicht mehr so unbehaglich, seit sie bei Lisa Glass am Krankenbett gesessen war. Erst vorgestern war sie hier angekommen, aber ihr Schädel brummte schon, als würde sie eine zehnjährige Migräne bekommen.
Gestern Abend hatte einer von Vaters Freunden die Bemerkung fallen gelassen, wie beachtlich es doch sei, dass Sam in ihrem Alter noch als Parkranger arbeitete. Heute früh hatten ihr Vater und Zola sie zum Frühstücken ins Red Roof Café geschleppt, wo natürlich jeder an ihrem Tisch vorbeikam, um »Hallo« zu sagen und Neuigkeiten auszutauschen. Einer der Landwirte befürchtete angesichts der großen Zahl von Toyota Prius’ in der Stadt schon eine Invasion der Kalifornier, allerdings lachte er dabei. Dann schaltete sich
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