Summer Westin: Verhängnisvolle Spuren (German Edition)
schloss die Augen, um sich noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, was sie bisher herausgefunden hatten.
Sam strich mit den Fingern über eine abgegriffene, gestickte Rose auf dem alten Kissenbezug, den sie immer bei sich trug. Ihr erster Versuch im Kreuzstich, den sie mit neun unternommen hatte. Wenn sie den dicken Baumwollfaden unter den Fingern spürte, dachte sie immer zurück an den ländlichen Ort in Kansas, wo sie aufgewachsen war. Und wie immer schlichen sich Schuldgefühle in die Erinnerungen an ihre Familie. Um deren Erwartungen zu erfüllen, hätte sie längst eine gut situierte Matrone sein sollen. Nicht Wildnis Westin, Internet-Reporterin in einer Katastrophengeschichte, die im Fernsehen von jenem Mann verbreitet wurde, für den sie vor Kurzem noch romantische Gefühle gehegt hatte.
Was würde der nächste Tag bringen? Zumindest würde sie alle neuen Entwicklungen in Bezug auf Zack mitbekommen, wenn sie Special Agent Perez begleitete. Der arme kleine Junge. Jetzt verbrachte er schon die dritte Nacht allein. Falls er allein war. Und falls er noch lebte.
Er konnte mit dem Gesicht nach unten in einem Bach liegen. Konnte gefesselt und geknebelt im Kofferraum eines Wagens eingeschlossen sein. In Reichweite eines Pädophilen mit einem Faible für Kleinkinder. Und weil Zack immer noch vermisst war, würden schussgeile Jungs mit ihren Knarren jeden Puma umbringen, der ihnen vor die Flinte lief.
Schluss jetzt. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, nur gesunde und frei herumlaufende Pumas vor sich zu sehen. Dann stellte sie sich Zack vor, der sicher im Warmen bei seiner Mutter saß, lachte und spielte.
Das Bild von Jenny Fischer rief auch Fred Fischer herbei. Konnte er seinem Sohn absichtlich etwas angetan haben?
Oder war etwa Kojoten-Charlie ein Schurke? Sie hatte ihn immer als Vagabunden betrachtet, der sich mehr mit den wilden Tieren als mit der eigenen Gattung identifizierte. Übrig geblieben aus den Sechzigern, auf einer spirituellen Suche, so ähnlich wie der einsame Wanderer, dem sie am Nachmittag begegnet war, nur dass Charlie in der Dunkelheit mit anderen Nachttieren herumstreunte.
Perez hatte angedeutet, dass Kojoten-Charlie psychotisch sein könnte. Sam hatte über Vietnam-Veteranen gelesen, die ausrasteten und ihre Familien ermordeten, weil sie mitten in der Nacht Vietcong-Angriffe erneut durchlebten. Wie sah die Welt in Kojoten-Charlies Augen in diesen Nachtstunden aus? Erlebte auch er irgendwelche verrückten Dinge aus seiner Vergangenheit? Trabte er sanft durchs Mondlicht wie ein Maultierhirsch, oder war er ein Raubtier, das die Nacht nutzte, um sich an seine Beute anzuschleichen? Jagte er etwa Kinder?
Kinderräuber. Wilson. Legosteine und Zookekse. Zacks rote Kappe. Der Mann hatte etwas Schleimiges an sich. Wie ein Höhlensalamander, bleich und weich, die Sonne fürchtend. Aber Perez hatte Wilson überprüft. Und die Sache mit dem Schuh passte nicht. Sie erinnerte sich, wie es sich angefühlt hatte, gegen seinen weichen Bauch gepresst zu werden. Konnte er überhaupt acht Kilometer wandern, ohne einen Infarkt zu bekommen?
Sam zog den Schlafsack bis zum Hals. Wieder heulte es auf der Ebene. Etwa zwei Kilometer entfernt und nur Kojoten diesmal. Natürliche Raubtiere, die natürliche Beute jagten.
Wir Menschen sind nicht im Einklang mit der Natur. Für uns ist Jagen Sport, nicht Nahrungsbeschaffung.
Das drohende Massaker legte sich wie ein Stein auf ihre Brust. Erbarmungslos wandten sich ihre Gedanken in dieselbe niederschmetternde Richtung. Menschen als Raubtiere. Tiere jagend. Einander jagend.
Der letzte Gedanke hielt sie noch lange wach.
12
Laut verkündete ein lärmender Hubschrauber über ihren Köpfen den Sonnenaufgang. Sam schälte sich aus dem warmen Schlafsack. Sie flocht ihr Haar zum üblichen französischen Zopf und krabbelte aus dem Zelt. Überraschenderweise saß Perez schon im Schneidersitz davor und machte auf ihrem Campingkocher Kaffee.
Das Talent, sich selbst zu versorgen, brachte ihm Punkte auf ihrer internen Skala ein. Einen weiteren erhielt er dafür, dass er ihr einen dampfenden Becher hinhielt. Ein Mann, der einem spontan den Nacken massierte und Kaffee machte, war definitiv ein rares Exemplar der Gattung.
»Dann geht es also heute Morgen zu den Ruinen«, sagte er. »Und je nachdem, was wir dort vorfinden, vielleicht weiter zum Curtain.«
Ziemlich despotisch am frühen Morgen. Sie zog wieder fünf Punkte ab.
»Lassen Sie es mich anders
Weitere Kostenlose Bücher