Suna
dabei?«, fragte der Arzt, ohne den Blick von dir abzuwenden.
»Manchmal schon. Sie ist einfach nur wach«, sagte ich.
Du hast den unbekannten Mann mit deinen großen Augen gemustert.
»Wo steht denn ihr Bettchen?«, fragte er routiniert und hob dabei die Hand, um dich zu berühren.
Da hast du dich ganz steif gemacht, wie immer, wenn ein Fremder dich anfassen möchte. Du hast angefangen zu schreien, so dass ich dem Arzt keine Antwort auf seine Frage geben konnte. Erst als ich dich herumtrug und die kleine Melodie summte, die ich immer summe, wenn du dich auf regst, bist du wieder ruhiger geworden. Rascher als sonst.
»Ist sie oft so?«, fragte der Arzt.
Ich nickte und erzählte ihm von der Vermutung des Kinderarztes und auch, dass ich nichts davon hielt.
»Warum nicht?«, fragte er.
Mein Blick wanderte zu den orientalischen Teppichen an der Wand, und ich fühlte dieselben Tränen in mir aufsteigen wie in meinem Traum mit dem hölzernen Kind, dem ich keinen Platz geben konnte zwischen den vier Erwachsenen.
Ich wiegte dich in meinen Armen.
»Sie haben nach der Geburt damals von ihrer Seele gesprochen«, sagte ich. »Was haben Sie damit gemeint?«
Ich spürte, wie du anfingst zu zappeln, und setzte dich auf den Boden, dicht neben meinen Stuhl. Du hast dich an mich gelehnt und zwischen uns hin- und hergeschaut. Der Hofer nahm mit einem Mal keine Notiz mehr von dir, sondern sah mir fest in die Augen.
Ich hielt seinem Blick stand.
Ich wollte eine Antwort haben.
»Was haben Sie damit gemeint?«, wiederholte ich.
»Träumen Sie manchmal?«
Ja, sagte ich und erzählte ihm von dem Alten und verschwieg nicht, dass er mich schon in Berlin besucht hat.
Ob er sich darüber jetzt wundere?
»Nicht im Geringsten«, sagte er verschmitzt und fragte weiter, ob ich mir vorstellen könnte, dass jeder Mensch eine Lebensaufgabe hätte und dass Kinder sich ihre Eltern darum mit Bedacht wählten?
»Sind Sie sicher?«, fragte ich.
Tom sagt das auch, und wie oft haben wir gekämpft deswegen, weil ich nicht akzeptieren wollte, dass ich für den Schmerz, den es in meinem eigenen Leben gegeben hatte, niemandem die Schuld geben konnte. Und trotzdem war ich hier, beim Handaufleger und Pendler, weil ich nicht weiterwusste und mir sicher war, dass meinem Kind nicht geholfen wäre mit Blutuntersuchungen und Klinikaufenthalten. Ich erzählte dem Arzt, was ich von meiner Familie wusste. Und während ich erzählte, wurde mir klar, dass meine Familie auch deine ist und mehr noch: dass deine Geschichte nicht erst mit Tom und mir begonnen hat, sondern mit unseren Eltern und Großeltern.
»Ihre Tochter ist bei Ihnen, weil sie sich dafür entschieden hat. Folgen Sie den Wegzeichen, die sie Ihnen gibt«, sagte der Hofer lächelnd, als ich geendet hatte.
»Mehr nicht?«, fragte ich, sonderbar erleichtert.
Der Hofer machte eine Geste zwischen dir und mir, die mich an den Alten und seine Holzpüppchen in meinem Traum erinnerte.
»Sie kann keine Wurzeln schlagen«, sagte er bedächtig. »Finden Sie Ihre.«
Ich bin nach Hause gegangen an diesem Nachmittag und habe damit begonnen, meine Familienpapiere herauszusuchen – sie füllen einen ganzen Ordner. Ich habe Namen notiert, Telefonnummern herausgesucht und über viele Wochen hinweg Anschriften von Ämtern und Kranken häusern im Internet recherchiert. Sogar ein wenig Türkisch habe ich gelernt dabei.
Du solltest Wurzeln schlagen können, kızım , und wenn es für mich bedeutete, noch einmal durch schmerzhafte alte Geschichten zu gehen und mich an nie gefragte neue zu wagen.
Und weißt du was? Genau darum kann ich dir jetzt, über ein Jahr später, erzählen, was ein glückloser anatolischer Eselhändler, ein Unwetter in Serbien, ein Weltkrieg, ein Goldhamsterschaufenster, der Islam und eine deutsche politische Entscheidung miteinander und mit deinem Leben zu tun haben.
Damit du verstehst, wie das alles zusammenhängt, muss ich bei zwei Brüdern beginnen, einem Ziegenhirten und einem Dichter.
Einem, der voller Sehnsucht gewesen ist nach einem besseren Leben und einem, der seinem Bruder überall hin gefolgt wäre.
Einem, der sein Glück in der Fremde nicht behalten konnte, und einem, der inzwischen schon nicht mehr lebt.
Jetzt im Moment siehst du mir dabei zu, wie ich unsere Koffer bereitstelle und unsere Taschen packe, und hörst, wie ich dir von Anatolien erzähle. Denn dorthin werden wir reisen.
Dorthin, wo neunundvierzig Jahre bevor ich das erste Mal Nachricht von meinem Vater
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