Suna
bekam ein kleiner sechsjähriger Junge am Jackenärmel seines älteren Bruders Do ğ an hing und zeterte:
»Nimm mich mit!«
Sein Gesicht war rot angelaufen von der Anstrengung, Schritt zu halten mit Do ğ an, der schon acht war und viel längere Beine hatte als er selbst.
»Geh nach Hause, Kamil«, sagte Do ğ an und versuchte, den Kleinen abzuschütteln.
»Du bist lästiger als ein Schwarm Heuschrecken«, schimpfte er. »Hilf der Tante mit den Hühnern. Oder spiel irgendwas.«
Aber Kamil kannte seinen Bruder. Man musste nur ausdauernd genug sein, dann gab er nach.
»Du bist eine Plage«, sagte Do ğ an schließlich und schlug mit dem Hirtenstock sacht auf die kleinen Hände, die sich nicht öffnen wollten. Da wusste Kamil, dass er gewonnen hatte. Er gab den Jackenärmel frei, jauchzte und machte Luftsprünge.
»Sag dem Onkel aber keinen Ton davon, hast du gehört?«, sagte Do ğ an eindringlich. Denn so freundlich der Onkel tagsüber war, so brutal konnte er werden, wenn er etwas getrunken hatte.
Zeki, der Vater der Kinder, war während der Sommermonate nur selten zu Hause. Er hatte Esel, mit denen er im Frühjahr über das Land zog, um sie zu verkaufen. »Ich komme spätestens im Herbst als reicher Mann zurück«, sagte er bei jedem Aufbruch.
Ihre Mutter war bei Kamils Geburt gestorben. So waren der Onkel und Tante Ipek mehr oder weniger zu Eltern geworden, wenigstens für die Sommermonate, denn im Winter wohnte auch Zeki bei ihnen, solange sein eigenes Winterhaus nicht fertiggestellt war.
»Wenn ich groß bin, haue ich ab«, sagte Do ğ an oft, wenn sie hinter dem Haus auf dem großen Felsen saßen.
Von dort konnte man die Wasserfälle sehen, aber nur im Frühling, nach der Schneeschmelze. Im Sommer war das Laub der Bäume zu dicht, und oft trocknete die Hitze den Fluss aus. Meistens kam das Wasser erst im Herbst wieder. In diesem Jahr war es schon früh verschwunden.
Sie waren jetzt bei den Ziegen angekommen. Do ğ an begann mit dem Melken. Tante Ipek machte den besten Ziegenkäse weit und breit.
»Eines Tages gehe ich in die Stadt«, sagte sie manchmal. »Dort verkaufe ich den Käse, den ihr im Unverstand in euch hineinfresst.«
Do ğ an und Kamil bewunderten Tante Ipek.
»Hast du keine Angst vor dem Onkel?«, hatte Kamil sie einmal gefragt, als er noch kleiner war.
»Angst«, sagte sie dann lachend. »Was meinst du, würde sich ändern, wenn ich Angst hätte? Er würde genauso viel trinken. Und bevor er euch schlägt, soll er mich schlagen, denn mich trifft er nicht. Mein Herz ist bei ihm.«
Kamil verstand nicht, was sie damit sagen wollte, aber es beruhigte ihn. Er war noch zu klein, um zu bemerken, dass auch Tante Ipek die Abende genoss, die sie in seinem Bett schlafen konnte, unbehelligt von betrunkenen und heißen nassen Händen.
»Wohin willst du denn eigentlich abhauen?«, fragte Ka mil, als die Arbeit getan war und die Brüder im Gras lagen.
»Wie oft hast du das schon gefragt?«, gab Do ğ an müde zurück.
Er hatte Hunger, aber weil er nur Essen für sich eingepackt hatte, würde er sich gedulden müssen, damit es für beide bis zum Abend reichte.
»Ich würde die Felsen hinaufklettern und bis zur Quelle der Wasserfälle gehen«, sagte Kamil. Do ğ an lachte.
»Das nenn ich eine weite Reise«, sagte er und grinste. »Da bist du in drei Tagen wieder zu Hause.«
»Wohin dann? Ins Tal etwa?«
Es gab eine kleine Straße, mehr eine Piste, die hinunterführte in das Tal, von dem Kamil bisher nur gehört hatte. Von dort, so hieß es, käme man sowohl in den Norden nach Yozgat als auch in den Süden des Landes. Busse fuhren da. Kamil hatte noch nie einen gesehen. Der Hodscha erzählte davon. Je öfter er erzählte, desto größer wurde der Bus in Kamils Vorstellung, er glänzte und glitzerte in der Sonne und hatte alsbald hundert Räder. Und einen Fluss sollte es dort geben, der sogar bis zum Schwarzen Meer floss. Sicher war er aber nicht.
»Ich möchte das Meer sehen«, sagte Do ğ an.
»Das Meer?«, fragte Kamil vorsichtig.
Er hatte Angst vor Wasser, und sei es nur das aus Tante Ipeks Badeeimer. An manchen Tagen gab es nicht genügend Feuerholz, dann schüttete sie das Wasser kalt über die Kinder. In diesen Momenten hasste Kamil den Onkel für seinen Geiz.
Außerdem konnte er nicht schwimmen. Hohn und Spott hatten die anderen Kinder für ihn übrig, wenn sie sich im Sommer an dem winzigen See trafen, den die Sonne gelassen hatte. Schon die allerkleinsten Jungs sprangen fröhlich
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