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Suna

Suna

Titel: Suna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziefle Pia
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Fisch.
    Die dritte oder vierte Speisekarte war in Weihnachtsbaumform geschnitten, Luftschlangendekoration und übri­ges Lametta inklusive. Jemand, vielleicht die Auszu­bildende, hatte jeden einzelnen i-Punkt mit silbernem Glitzerstift umkringelt. Silvester war liebevoll mit y geschrieben.
    Die Abstände zwischen den Aushangkästen wurden größer. Der Moment, über den Grund unserer Reise zu sprechen, rückte näher. Seit ich in Berlin lebte, war ich nie so weit weg von dort gewesen, jedenfalls nicht auf unbekanntem Terrain mit einem Mann. Ich sah mich um.
    »Da drüben steht noch einer«, sagte ich und ging schon hinüber, mit raschen Schritten. Tom blieb an der Gehwegkante stehen. Ich legte meine Stirn an das eiskalte Glas im Schaukasten und las.
    »Gulaschsuppe«, sagte ich.
    »Gulaschsuppe gilt nicht«, rief Tom.
    »Warum nicht?«, rief ich zurück.
    »Gulasch ist kein Fisch.«
    »Nein?«, rief ich und drehte mich um.
    Er stand auf seiner Seite der Straße. Seine hellen Locken wehten um seinen Kopf, seine dunklen Augen leuchteten. Er sah nicht aus, als würde er frieren.
    »Kein Fisch«, sagte er, als ich wieder bei ihm war.
    »Geht es um Fisch?«, fragte ich.
    »Kann ich das wissen?«, fragte er und lächelte.
    Am Ende der Promenade stand, ganz für sich, eine kleine Imbissbude, die mit Brettern vernagelt war. Ich zog meine Hand aus der Manteltasche und rüttelte am Holzverschlag.
    »Keine Currywurstsaison«, sagte ich mit künstlichem Bedauern, »und keine Pommes.«
    Wir sagten gleichzeitig »keine Pommes ist übel«.
    Tom lachte.
    »Und kein Bier«, sagte er.
    »Kein Bier um elf Uhr vormittags«, sagte ich. »Die Apokalypse.«
    »Rauchen wir was«, sagte er, und für einen Moment dachte ich, er meine das ernst.
    Hinter der Imbissbude begannen die Dünen. Ein Rundwanderweg führte am Dünenkamm entlang bis ans Ende des Badestrandes und dann in einer weiten Kurve um einen Campingplatz herum zurück.
    Wir setzten unsere Füße auf den Sand und stapften los.
    »Ziemlich kalt«, sagte Tom.
    Er legte vorsichtig seinen Arm um mich. Ich wand mich. Dann ließ ich es zu.
    Seinen Arm auf meiner Schulter.
    Wir wanderten und schwiegen. Ohne Speisekarten war das Schweigen dicker.
    Mit seinem Arm um meine Schulter könnte das Ziel unserer Reise »sein Arm um mich« sein.
    Ich hielt den Kopf gesenkt, damit mir der Wind nicht so direkt ins Gesicht blies, und sah unsere Füße, wie sie nebeneinander im Sand aufsetzten. Meiner-seiner-meiner-seiner. Seiner-meiner-meiner-seiner knirschten unsere Schritte.
    Meine nur kurz und leise, seine kräftig und entschlossen.
    Ich machte einen Ausfallschritt, damit wir gemeinsam auftraten, wenigstens mit den mittleren Beinen, den inneren. Um meiner-meinerseiner-seiner zu schaffen.
    Meine Füße steckten in Fellstiefeln für Berliner Winter und, wie man sah, für Frühjahr am Meer. Tom trug San­dalen, wie immer, wahrscheinlich war er damit geboren.
    Ich lächelte. Dann legte auch ich meinen Arm um ihn.
    Wir fanden ein kleines Café und setzten uns in eine Ecke. Die Jacken zogen wir nicht aus.
    An einem anderen Tisch saß eine Familie mit zwei kleinen Jungs. Die Kinder spielten mit Malstiften.
    »Sie haben alles noch vor sich«, sagte ich.
    Ich nahm sie ganz genau wahr, ihre Hände mit den Buntstiften zwischen den kleinen Fingern, ihre Schultern, die sich über das zu bemalende Papier beugten. Ihre Haare, die ihnen vor die Ohren fielen, den Blick verdeckten und von der Mutter sanft zurückgeschoben wurden. Ich sah ihre Augen den selbstgemalten Linien folgen, mal einen Daumen, mal eine Zunge zwischen den Lippen, wie Kinder die Zungen in die Mundwinkel drücken und darüber das Atmen vergessen, weil sie so konzentriert arbeiten müssen an dem einen, dem Wichtigen dieses Augenblickes.
    Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben Kindern zu mit einem Blick, den ich an mir nicht kannte. Da war keine intellektuelle Überheblichkeit mehr, um Traurigkeit und Unruhe und unbestimmten Zorn bei ihrem Anblick zu überspielen. Stattdessen sah ich ihr Glück und ihren Stolz auf das selbst Geschaffene und die Abgeschlossenheit ihrer Welt, in der sie geliebt wurden.
    »Solche könnten wir auch haben«, sagte Tom.
    Der Kellner kam mit einem Zettel, es gebe nur saisonale Gerichte, sagte er, ob wir mal schauen wollten?
    Wir bestellten Tee.
    Draußen auf den Dünen bog sich das Gras noch immer unter dem kalten Wind. Langsam wurden meine Finger wieder warm. Aufs Meer sehen, dachte ich, wir waren schließlich extra ans

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