Suna
knarzigen Tonfall. »Ich hab jetzt fascht zehn Jahr’ drauf gewartet, dass du dich mal bequemschd, mich anzumrufen.«
Im Hintergrund hörte ich, wie Tanja empört »Mama!« rief.
»Lass«, sagte Julka und schimpfte im Hochdeutschen wei ter, »ist doch wahr! Da sitz ich jeden Geburtstag rum und trau mich nicht aus dem Haus und das Fräulein Tochter reist in der Weltgeschichte rum, oder was?«
Ich versuchte zu erklären, dass ich keineswegs mutwillig in der Weltgeschichte herumgereist war, aber Julka schien Gefallen daran gefunden zu haben, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.
»Du weißt schon, dass deine Schwester erst letzte Woche geheiratet hat?«
»Woher soll sie das wissen«, hörte ich wieder Tanja.
»Na, wenn die sich früher gemeldet hätte, hätt sie des wissen können. Und eine Nichte hast du, die sieht aus wie du, weißt du das?«
Ich verneinte erschöpft.
»So, genug geredet. Wann kommst du, dass man dich mal sieht?«
Eine Wahl hätte ich ohnehin nicht gehabt. Ich sagte einen Termin am darauffolgenden Wochenende zu. Setzte mich ins Auto und fuhr die Autobahn hinunter, mehr oder weniger zurück in meine alte Heimat, denn wie es der Zufall wollte, waren Tanja und ich nur ungefähr fünfzig Kilometer entfernt voneinander aufgewachsen. Wir hatten uns bei Tanja und ihrer Familie verabredet.
Julka war alles andere als eine dickliche Mittfünfzigerin. Sie war noch hagerer, als ich je gewesen war, und sie aß für drei. Sie nahm mich in die Arme und ließ mich nicht mehr los, ich bekam kaum noch Luft.
Ich musterte die Frauen, die Mutter und Schwester waren (»Sogar vom gleichen Vater«, sagte Tanja stolz).
Ich versuchte, in ihrer Gegenwart etwas Besonderes zu spüren, musste man das nicht, wenn man seine Mutter das erste Mal sah?
Aber da war vor allem Erstaunen über die Selbstverständ lichkeit, mit der ich innerhalb von Sekunden Tante, Schwes ter, Schwägerin und Tochter wurde, und darüber, dass wir alle drei dieselben Gesten machten, um etwas zu betonen. Und wenn wir dachten, niemand sieht hin, drehten wir an unseren Ohrläppchen, alle am linken.
Tanja bot mir einen Platz an ihrem Küchentisch, als würde ich hier schon immer ein und aus gehen, und ich bemühte mich redlich, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich alles andere als souverän war.
Tanja zeigte mir stolz ihre noch ganz unberührten Hochzeitsalben, und weil ihre Freude so unübersehbar war und ihre Hoffnung, zwischen uns würde sich mehr ergeben als nur dieses eine Treffen, blätterte ich mich von Bild zu Bild und fühlte mich müder und müder. Daran änderten auch die Nachbarn nichts, die nach und nach erschienen und alle die unglaubliche Ähnlichkeit betonten zwischen Tanja und mir, und ja! Seht ihr das denn nicht? Auch zwischen mir und Julka.
Und genau, wie mir alle versichert hatten, sah meine Nichte tatsächlich aus wie ich als Kind. Dunkle Haare hatte sie zumindest, und Julka sagte eine Spur zu laut, ich hätte ebensolche gehabt, schon bei der Geburt, sie hätte Locken reindrehen können mit ihren Fingern, und ein fünfmarkstückgroßes orangefarbenes Mal hätte ich außerdem auf der Stirn gehabt.
Wir saßen alle erschöpft am Tisch, und als eine gewisse Ruhe eingekehrt war, versuchten wir einander zu erzählen, was man an einem ersten Abend erzählen kann, wenn man auf der einen Seite nichts zu verlieren hat und auf der anderen Seite alles.
Ich sah Julka und ihr Bemühen um mich, sah meine Schwester und ihre Familie – ich sah den Platz, den sie mir jetzt einräumten, und ich wollte dankbar sein und das annehmen, was heute war, und keine Fragen stellen zu einem Thema, das ja von selbst auf den Tisch kommen würde, vielleicht morgen, oder nicht?
So verschwieg nicht nur Julka an diesem Abend die Hälfte, auch ich tat ihr gegenüber so, als gäbe es da nichts, weswegen sie sich Vorwürfe machen musste, und malte meine Familie in hellen Pastelltönen und sah, dass sie mir unbedingt glauben wollte, obwohl sie sich denken konnte, dass ich nicht aufrichtig war. Wir sind uns wesentlich ähnlicher, als man so meinen könnte, meine Mutter und ich. Wir sind beide ziemlich talentierte Geschichtenerzähler.
Von zu Hause aus rief ich Magdalena an, um ihr zu sagen, wo ich gewesen war. In die Stille hinein sagte ich, dass Julka grüßen ließ und sich überhaupt bei ihr bedanken wollte dafür, dass sie mich großgezogen hat (»groß bischd ja g ’ worden«), und dass sie nicht böse sei wegen meines neuen Vornamens.
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