Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Suna

Suna

Titel: Suna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziefle Pia
Vom Netzwerk:
Sichsehen nicht so viel Bedeutung beigemessen wird. Denn nicht immer kann ich mich freimachen von der selbstauferlegten Pflicht, für alle ganz besondere Tage zu schaffen und ganz besondere Momente. Unsere Familie ist nämlich nicht so selbstverständlich zusammengewachsen, wie ich das gerne gehabt hätte.
    Nach der Geburt deines Bruders vor drei Jahren habe ich noch alle Großeltern zu einem Fest eingeladen, ungeachtet der tatsächlichen Großelternschaft. Bis auf Johannes, der im Hospiz bei Irma war, sind sie alle gekommen. Julka und Andrusch, Magdalena und Toms Eltern, sogar Thea, die nicht mehr so gerne verreist.
    Tom stellte unsere klapperigen Gartenmöbel in den Hof, und ich trug Kuchen und Torten nach draußen, kochte Kaffee und reichte das Baby herum.
    Wir erzählten von unserer geplanten Hochzeit. Vielmehr ich erzählte davon. Wie ich überhaupt von Plänen sprach. Von den drei oder vier Kindern, die wir noch gerne hätten, vom Umbau unseres Häuschens und von meinen Ideen für den Gemüsegarten.
    »Willst du nicht wieder arbeiten?«, fragte Thea ganz vorsichtig.
    Nein, das nicht! Wie sollte das denn gehen, mit Kindern? Wie stellte sie sich das denn vor? In meiner Branche? Nein, auch das Studium wollte ich nicht beenden, ich war doch jetzt Mutter!
    Und in die Stille hinein sagte ich fröhlich: »Komm, wir erzählen noch mal, wie das war an der Ostsee, das war ja wirklich ein Ding, oder nicht?« Und Tom nickte und ließ sich widerstrebend mitreißen, und alle mussten noch einmal hören, wie ich ein Jahr zuvor in Berlin an meinem Schreibtisch gesessen hatte, den Kopf in den Händen vergraben vor lauter Schmerzen auf der linken Seite, und einen Gedanken nicht loswurde, nämlich den an Tom.
    An diesem Morgen war ich aufgewacht und hatte von ihm geträumt, so nah und so klar, dass ich meinte, seine Wärme noch neben mir im Bett zu spüren. Das Gefühl verlor sich während des Vormittages nicht, im Gegenteil, es nahm im selben Maße zu wie der Schmerz hinter meiner Stirn.
    Vor zehn Jahren hatten wir das letzte Mal miteinander gesprochen, wir hatten über gemeinsame Freunde gelegentliche Grüße ausrichten lassen, aber darüber hinaus hatten wir nichts miteinander zu tun.
    Jetzt wollte ich ihn anrufen.
    Ich überlegte, was ich ihm erzählen könnte, und dann fiel mir ein, dass er nichts davon wusste, wie und wo ich meine Mutter gefunden hatte. Ich redete mir ein, dies wäre doch ein ausgezeichneter Aufhänger. Halb blind vor Schmerzen, zog ich einen staubigen Karton unter dem Bett hervor und hoffte inständig, wenigstens einen seiner zweihundert Briefe zu finden, und eine Telefonnummer.
    Nur wenige Tage später trat ich aus einem Hotel an der Ostsee hinaus auf die Strandpromenade und ging mit Tom gemeinsam die wenigen Schritte zum Hafen hinunter.
    Jeder für sich waren wir überrascht, dass wir gemeinsam spazieren gingen, an einem Strand an der Ostsee.
    Obwohl ich zuvor einen Brief geschrieben hatte,
    Tom eine E-Mail,
    ich einen Anruf getätigt hatte,
    und er ebenso.
    Wir waren überrascht, obwohl ich während des ersten Telefonats gesagt hatte: »Wir sollten uns sehen«, und er während des zweiten erwähnte, er könne schon am folgenden Tag in Berlin sein, ob mir das passen würde?
    Ich hatte gesagt, Berlin sei im Frühjahr selten angenehm, und er schlug daraufhin vor, ans Meer zu fahren. »Das ist doch nicht so weit, ein paar Kilometer noch, von Berlin aus?« (Ich sagte: »Ja, nur ein paar Kilometer«, und googelte anschließend die Entfernung.)
    Ich zog meinen Mantel eng um mich und fror dennoch. Der Aprilwind war eisig.
    Es war Mittagszeit. Auf Speisekarten in Aushangkästen direkt an der Promenade boten die Restaurants ihre wenigen Gerichte an, die Farbfotos ausgebleicht, vor allem das Rot. (»Rot ist am wenigsten lichtecht«, hatte mein Werkstattleiter damals gesagt. »Rot ist die Farbe der Liebe«, hatte ich geantwortet. »Am wenigsten lichtecht, Luisa, tut mir leid.«)
    »Ist das wahr? Du kannst drucken?«, fragte Tom.
    »Vorder- und Rückseite. Cyan, Magenta, Yellow und Kälte.«
    »Kälte?«
    »Schwarz«, sagte ich.
    »Kälte ist Schwarz?«, fragte Tom.
    »Oder Tiefe. Man kann auch Tiefe sagen.«
    »Ist Kälte und Tiefe nicht etwas Verschiedenes?«, fragte Tom.
    »Ich glaube, das kommt sehr darauf an, wen du fragst.«
    Hunger hatten wir nicht, dennoch lasen wir uns gegenseitig die Mittagsmenüs von den Speisekarten vor. Auch, um ein Thema zu haben. Und Wegpunkte.
    Die meisten Angebote handelten von

Weitere Kostenlose Bücher