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Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset

Titel: Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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(für Harfe arrangiert), wäre er enttäuscht, dass sie ihre einzige Chance in einer viktorianischen Ohnmacht verschwendet hatte.
    Em zog die aufgeplatzte Unterlippe absichtlich gegen die Zähne... und biss zu, was frisches Blut hervorquellen ließ. Die Welt fing wieder zu strahlen an. Der Klang des Windes und des strömenden Regens schwoll an wie seltsame Musik.
    Wie viel Zeit hatte sie? Vom Bunker bis zur Zugbrücke war es eine Viertelmeile. Wegen der Regenjacke, und weil sie den Mercedes nicht hatte starten hören, nahm sie an, dass er zu Fuß lief. Sie wusste, dass sie den Motor wegen des Donners und des Regenrauschens überhört haben konnte, aber sie glaubte einfach nicht, dass er den Wagen nehmen würde. Deke Hollis kannte den roten Mercedes und würde vor dem Kerl, der ihn fuhr, auf der Hut sein. Das konnte Pickering sich wohl denken. Pickering war verrückt – teilweise hatte er Selbstgespräche geführt, teilweise aber auch mit jemandem geredet, den nur er sehen konnte, einem unsichtbaren Spießgesellen -, aber er war ja nicht blöd. Deke natürlich auch nicht, aber er war allein in seinem kleinen Wärterhäuschen. Kein Auto würde vorbeikommen, kein Boot würde auf Durchlass warten. Nicht in diesem Regenguss.
    Außerdem war er alt.
    »Mir bleibt vielleicht eine Viertelstunde«, sagte sie in den leeren Raum hinein – vielleicht war es auch der Blutfleck auf dem Boden, zu dem sie sprach. Wenigstens hatte er sie nicht geknebelt; wozu auch? Niemand würde sie schreien hören, nicht in dieser hässlichen, kastenförmigen Betonburg. Sie hätte mitten auf der Straße stehen und aus vollem Hals brüllen können, und trotzdem hätte sie keiner gehört. Momentan waren sogar die mexikanischen Gärtner in Deckung gegangen und hockten bei Kaffee und Zigaretten in ihren Lieferwagen.
    »Bestenfalls eine Viertelstunde.«
    Ja. Wahrscheinlich. Dann würde Pickering wiederkommen und sie vergewaltigen, wie er vorgehabt hatte, Nicole zu vergewaltigen. Danach würde er sie töten, wie er Nicole schon getötet hatte. Sie und wie viele andere »Nichten«? Em konnte es nicht sagen, aber sie war sich sicher, dass es nicht – wie Rusty Jackson gesagt hätte – sein erstes Rodeo war.
    Fünfzehn Minuten.Vielleicht nur zehn.
    Sie sah auf ihre Füße hinab. Sie waren nicht am Boden festgeklebt, dafür aber die Stuhlbeine. Und doch …
    Ja, klar bist du’ne Läuferin. Schau dir bloß diese Beine an.
    Es waren gute Beine, ganz recht, und sie brauchte niemanden, der sie küsste, um sich dessen bewusst zu sein. Schon gar nicht einen Irren wie Pickering. Sie wusste nicht, ob sie gut im Sinne von schön waren oder sexy, aber was ihre Brauchbarkeit betraf, waren sie sehr gut. Sie hatten sie seit dem Morgen, als sie und Henry Amy tot in ihrem Bettchen vorgefunden hatten, eine lange Strecke getragen. Pickering setzte offenbar großes Vertrauen in die Macht von Klebeband, hatte sicher Dutzende von Killern in Dutzenden von Filmen damit zu Werk gehen sehen, und keine seiner »Nichten« hatte ihm Anlass gegeben, an ihrer Tauglichkeit zu zweifeln.Vielleicht weil er ihnen keine Chance gelassen hatte, vielleicht weil sie zu verängstigt waren. Doch möglicherweise … besonders an einem feuchten Tag, in einem ungelüfteten Haus, das nach Schimmel roch …
    Em beugte sich so weit vor, wie das Streifenkorsett es zuließ, und begann, ihre Schenkel- und Wadenmuskeln nach und nach anzuspannen: diese neu entwickelten Läufermuskeln, die der Verrückte so bewundert hatte. Sie steigerte die Spannung fast bis zum Äußersten und fing schon an, die Hoffnung aufzugeben, als sie ein saugendes Geräusch vernahm. Erst ganz leise, kaum mehr als ein Wunschgedanke, aber es wurde lauter. Das Klebeband war mehrfach in dicken Zickzack-Schichten gewickelt worden, es war höllisch stark, aber es löste sich trotzdem vom Boden. Aber langsam. O Gott, wie langsam.
    Sie entspannte sich, schwer atmend, Schweiß auf der Stirn, unter den Armen, zwischen den Brüsten. Sie wollte sofort wieder loslegen, doch von dem Lauftraining auf dem Sportplatz her wusste sie, dass sie warten musste, bis ihr heftig klopfendes Herz die Milchsäure aus den Muskeln gepumpt hatte. Sonst würde ihre nächste Anstrengung weniger Kraft freisetzen und nicht so erfolgreich sein. Aber es war schwer. Das Warten war schwer. Sie hatte keine Ahnung, wie lange er schon fort war. An der Wand hing eine Uhr – eine aufgehende Sonne aus Edelstahl (wie alles andere in diesem scheußlichen, herzlosen Raum

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