Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
nun das Profil zuwandte. Wenn das Beten war, stellte sie sich am besten vor, dass es ihre tote Tochter war, zu der sie betete. »Bitte«, sagte sie wieder, schwang die Hüften seitwärts und schmetterte den Parasiten, den sie trug, gegen die Kühlschranktür.
Sie war nicht so überrascht wie zuvor, als der Stuhl sich auf einmal vom Boden gelöst und sie fast gegen den Herd katapultiert hätte, aber beinah. Krachend gab die Stuhllehne nach, und die Sitzfläche rutschte zur Seite. Nur die Beine saßen noch fest.
»Er ist morsch!«, rief sie in die leere Küche. »Das verdammte Ding ist morsch!« Vielleicht nicht ganz, aber – Gott sei Lob und Dank für das feuchte Klima in Florida – er war eindeutig nicht so stabil, wie er aussah. Endlich ein kleiner Glücksfall … und wenn Pickering jetzt hereinkäme, wo sie gerade ein wenig aufatmete, dachte Emily, würde sie denVerstand verlieren.
Wie lange noch? Wie lange war er schon fort? Sie hatte keine Ahnung. Sie hatte immer ein gutes Zeitgefühl gehabt, aber das war jetzt so nutzlos wie die Uhr an der Wand. Es war absolut grauenvoll, so völlig aus der Zeit gefallen zu sein. Sie erinnerte sich an ihre klobige Armbanduhr und blickte hinab, aber die Uhr war weg. Nur ein blasser Fleck zeigte noch an, wo sie gewesen war. Er hatte sie ihr wohl abgenommen.
Fast hätte sie sich noch einmal seitwärts gegen den Kühlschrank geworfen, aber dann kam ihr eine bessere Idee. Ihr Hintern war jetzt teilweise von dem Sitz befreit, und das verlieh ihr mehr Spielraum. Sie spannte den Rücken an, wie sie die Schenkel und Waden angespannt hatte, um den Stuhl vom Boden zu lösen, und als sie einen warnenden Schmerz im Kreuz spürte, hielt sie nicht inne, um zu warten, dass er verging. Den Luxus des Wartens konnte sie sich nicht mehr leisten. Sie sah Pickering zurückkommen, sah ihn mitten auf der Straße rennen, mit flatternder Regenjacke durch die Pfützen platschen, irgendein Gerät in der Hand. Vielleicht ein Montiereisen, das den er aus dem blutbesudelten Kofferraum seines Mercedes geholt hatte.
Em drückte mit aller Kraft aufwärts. Der Schmerz im Kreuz vertiefte sich und nahm eine gläserne Intensität an. Aber sie hörte wieder dieses reißende Geräusch, als das Klebeband sich löste – nicht vom Stuhl, sondern von sich selbst, von den übereinandergewickelten Streifen. Es lockerte sich. Lockern war nicht so gut wie lösen, doch immerhin vergrößerte es ihre Bewegungsfreiheit.
Sie schwang die Hüften wieder gegen den Kühlschrank und schrie unter der Wucht des Aufpralls kurz auf. Diesmal bewegte der Stuhl sich nicht. Der Stuhl klebte an ihr wie ein Blutegel. Sie schwang die Hüften noch heftiger, schrie noch lauter: Tantra-Yoga trifft auf SM-Disco. Es krachte wieder, und diesmal verrutschte der Stuhl auf ihrem Rücken nach rechts.
Sie schwang wieder … und wieder … ließ ihre zunehmend ermüdenden Hüften kreisen und schmetterte ihre Last an den Kühlschrank. Unzählige Male. Sie weinte wieder. Ihre Shorts waren hinten aufgerissen. Sie waren ihr schief über die Hüfte gerutscht, und die Hüfte blutete. Sie hatte sich dort wohl einen Splitter eingezogen.
Sie holte tief Luft, um ihr hämmerndes Herz zu beruhigen (keine Chance), und schleuderte sich und ihr hölzernes Gefängnis noch einmal mit geballter Wucht gegen den Kühlschrank. Diesmal prallte sie an den Hebel des in der Tür eingelassenen Eisspenders, und eine Eiswürfelkaskade ergoss sich über den Fliesenboden. Es krachte noch einmal, der Stuhl sackte weiter ab, und plötzlich war ihr linker Arm frei. Sie blickte starr vor Verblüffung auf ihn hinunter. Die Armlehne haftete noch an ihrem Unterarm, aber der Rest des Stuhls hing schräg zur Seite, nur noch von langen grauen Streifen Klebeband gehalten. Es war, als wäre sie in einem Spinnennetz gefangen. Und das war sie ja auch; der Verrückte in Khakishorts und Izod-Hemd war die Spinne. Sie war noch immer nicht frei, aber jetzt konnte sie das Messer benutzen. Sie musste nur zum Küchenblock zurückrutschen und es an sich nehmen.
»Nicht auf die Eiswürfel treten«, ermahnte sie sich mit rauer Stimme. Sie klang – zumindest in ihren eigenen Ohren – wie eine manische Examenskandidatin, die bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebüffelt hatte. »Das ist jetzt nicht der Moment, Schlittschuhlaufen zu gehen.«
Sie umging das Eis, doch als sie sich zum Messer vorbeugte, knirschte es warnend in ihrem überanstrengten Rücken. Der Stuhl, nun schon viel lockerer,
Weitere Kostenlose Bücher