Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
geschlossen, und als sie sich ihr näherte, wusste sie schon, dass sie abgesperrt war. Sie würde in diesem Korridor gefangen sein, wenn er ihn von der Küchen- /Esszimmerseite her betrat. Gefangen, ohne weglaufen zu können. Und Laufen war mittlerweile das Einzige, worin sie gut war, das Einzige, wozu sie taugte.
Sie zog sich die Shorts hoch – mit der aufgeplatzten Naht hinten schlotterten sie ihr am Leib – und fasste nach dem Türknauf. Sie war so voller böser Vorahnung, dass sie es erst gar nicht glauben konnte, als der Knauf sich in ihrer Hand drehte. Sie schob die Tür auf und trat in den Raum, der offenbar Pickerings Schlafzimmer war. Es war fast so steril wie das Gästezimmer, aber doch nicht ganz so. Zum Beispiel gab es hier zwei Kissen anstatt nur einem, und die Steppdecke auf dem Bett (das wie ein Zwilling des Bettes im Gästezimmer aussah) war in einem säuberlichen Dreieck zurückgeschlagen, bereit, den Besitzer nach harter Tage Arbeit in kuschelig frische Laken gleiten zu lassen. Und es gab einen Teppich auf dem Boden. Es war zwar nur billige Auslegeware aus Nylonvelours – was Henry als Proletenperser zu bezeichnen pflegte -, aber er passte zu den blauen Wänden und ließ den Raum weniger skelettartig aussehen als die anderen. Außerdem gab es noch einen kleinen Schreibtisch, der wie ein alter Schülerschreibtisch aussah, und einen einfachen Holzstuhl. Und obwohl die Ausstattung im Vergleich zum Arbeitszimmer mit seinem großen (und leider mit Läden verschlossenen) Fenster und dem teuren Computer eher kümmerlich wirkte, hatte sie den Eindruck, dass dieser Schreibtisch benutzt wurde. Dass Pickering daran saß und mit der Hand schrieb, tief über sein Heft gebeugt wie ein Kind in einer ländlichen Schulstube. Was er dort schrieb, wollte sie sich lieber gar nicht vorstellen.
Das Fenster hier war ebenfalls groß, doch im Gegensatz zum Arbeits- und Gästezimmer waren die Fensterläden nicht geschlossen. Bevor Em hinausschauen konnte, wurde ihr Blick von einem Foto an der Wand neben dem Bett abgelenkt. Es war nicht gerahmt, sondern nur mit einer Reißzwecke befestigt. Ringsherum gab es noch andere kleine Löcher in der Wand, als ob hier über die Jahre andere Bilder angepinnt gewesen wären. Das Farbfoto war in der rechten Ecke mit dem digitalen Aufdruck 4-19-07 versehen. Dem Papier nach zu schließen mit einer altmodischen Kamera aufgenommen, und zwar von jemandem, der nicht sonderlich viel Ahnung von Fotografie hatte.Vielleicht war der Fotograf ja auch nur aufgeregt gewesen. So wie wohl Hyänen aufgeregt waren, wenn der Abend kam und sich frische Beute in der Nähe befand. Das Foto war unscharf, wie mit einem Teleobjektiv geknipst, und das Motiv nicht richtig zentriert. Das Motiv war eine langbeinige junge Frau in Denim-Shorts und luftigem Top, auf dem BEER O’CLOCK BAR stand. Sie balancierte ein Tablett auf den Fingern ihrer linken Hand wie eine Kellnerin in einem netten alten Norman-Rockwell-Gemälde. Sie lachte. Ihr Haar war blond. Em konnte nicht mit Sicherheit erkennen, ob es sich um Nicole handelte, nicht anhand dieses verwackelten Fotos und jener wenigen schrecklichen Augenblicke, als sie auf das tote Mädchen im Kofferraum des Mercedes hinabgeschaut hatte … sie war sich dennoch sicher.Tief im Herzen war sie sich sicher.
Rusty: »Es spielt keine Rolle, Kindchen. Du musst hier raus. Du musst dir Raum zum Laufen verschaffen.«
Wie zum Beweis krachte die Tür zwischen der Küche und dem Esszimmer auf – dem Klang nach fast heftig genug, um sie aus den Angeln zu reißen.
Nein, dachte sie. Alles Gefühl verließ ihre Körpermitte. Sie glaubte nicht, dass sie sich wieder nass gemacht hatte, aber wenn doch, hätte sie es nicht gespürt. Nein, das kann nicht sein.
»Du willst’s auf die grobe Tour?«, rief Pickering. Er klang benommen und heiter. »Okay, ich kann auch grob werden. Klar doch. Kein Problem. Du willst ein böses Mädchen sein? Na warte. Daddy kriegt dich schon.«
Er kam durchs Esszimmer. Sie hörte ein dumpfes Poltern, als er über einen der anderen Stühle stolperte (vielleicht den am »Vater«-Ende des Tisches) und ihn beiseitestieß. Die Welt verschwamm ihr vor den Augen, versank in einem Grauschleier, obwohl dieses Zimmer nun, da der Sturm sich verzogen hatte, relativ hell war.
Sie biss sich auf die gesprungene Lippe. Ein frischer Schwall Blut lief ihr das Kinn hinab, aber zugleich kehrte auch Farbe und Wirklichkeit in die Welt zurück. Sie schlug die Tür zu und langte
Weitere Kostenlose Bücher