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Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset

Titel: Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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splitternden Glases war enorm. Ohne zu überlegen oder hinabzublicken – Überlegen würde ihr nichts mehr nutzen, und Hinabblicken würde sie nur ängstigen, falls es weit in die Tiefe ging -, riss sie die Steppdecke vom Bett.
    Pickering warf sich wieder gegen die Tür, und obwohl der Stuhl nochmals hielt (sonst wäre ihr Peiniger längst ins Zimmer gestürmt und hätte nach ihr gegriffen), gab es ein Geräusch wie von berstendem Holz.
    Em wickelte sich vom Kinn bis zu den Füßen in die Decke, was sie für einen Moment wie eine Indianersquaw in einem Winterbild von N.C. Wyeth aussehen ließ. Dann sprang sie durch das gezackte Loch im Fenster, just als die Tür hinter ihr aufkrachte. Mehrere aus dem Rahmen ragende Glaspfeile verletzten die Steppdecke, aber kein einziger berührte Em.
    »O du verdammte blöde Schlampe!«, kreischte Pickering hinter ihr – dicht hinter ihr -, und dann segelte sie ins Freie.

9
Die Schwerkraft ist die Mutter von allem.
    Als Kind war sie ein Wildfang gewesen, hatte immer Jungensspiele (das beste hieß schlicht Banditen) im Wald hinter ihrem Haus am Rand von Chicago dem Gealbere mit Barbie und Ken auf der Veranda vorgezogen. Sie lief die ganze Zeit in Trägerhosen und Trainingsjacke herum, das Haar zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden. Sie und ihre beste Freundin Becka sahen sich alte Eastwood- und Schwarzenegger-Filme im Fernsehen an statt der Olsen-Zwillinge, und wenn sie Scooby-Doo schauten, identifizierten sie sich mit dem Hund statt mit Velma oder Daphne. Über zwei Jahre hin bestand ihr Pausenbrot in der Schule aus Scooby-Snacks.
    Und sie kletterten natürlich auf Bäume. Emily meinte sich zu erinnern, dass sie und Becka einen ganzen Sommer lang in den Bäumen ihrer jeweiligen Gärten verbracht hatten. Sie waren in jenem Jahr wohl etwa neun gewesen.Außer der Lektion ihres Vaters, wie man fallen solle, behielt Em aus diesem Klettersommer nur noch in Erinnerung, wie ihre Mutter ihr jeden Morgen weiße Salbe auf die Nase strich und in ihrem Gehorch-mir-oder-stirb-Tonfall sagte: »Wisch das nicht ab, Emmy!«
    Eines Tages verlor Becka das Gleichgewicht und wäre beinah fünf Meter tief auf den Rasen der Jacksons gefallen (vielleicht auch nur drei Meter, aber damals war es den Mädchen wie acht Meter vorgekommen … oder sogar fünfzehn.) Sie fing sich gerade noch an einem Ast ab, doch dann hing sie da und rief kläglich um Hilfe.
    Rusty war am Rasenmähen gewesen. Er schlenderte herüber – jawohl, schlenderte; er nahm sich sogar die Zeit, den Rasenmäher abzustellen – und streckte die Arme aus. »Lass dich fallen«, sagte er, und Becka, die erst seit zwei Jahren nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubte und noch immer unendlich vertrauensvoll war, ließ den Ast los. Rusty fing sie mühelos auf, dann rief er Em von dem Baum herab. Beide Mädchen mussten sich unten vor den Stamm setzen. Becka weinte ein bisschen, und Em fürchtete sich – vor allem davor, dass das Bäumeklettern nun verboten würde, genauso verboten, wie nach sieben Uhr abends zum Eckladen zu gehen.
    Rusty verbot es ihnen nicht (obwohl Emilys Mutter es vielleicht getan hätte, hätte sie das Ganze vom Küchenfenster aus beobachtet). Vielmehr brachte er ihnen bei, wie man fallen sollte. Und dann übten sie eine Stunde lang das Fallen.
    Was für ein cooler Tag das gewesen war.
    Als Emily durchs Fenster sprang, sah sie, dass es bis zu der mit Steinplatten belegten Terrasse unten ziemlich weit war. Vielleicht nur drei Meter, aber als sie mit der zerfetzten, flatternden Decke hinabfiel, sah es aus wie acht. Oder fünfzehn.
    Gebt in den Knien nach, hatte Rusty ihnen sechzehn oder siebzehn Jahre zuvor geraten, in jenem Klettersommer, auch der Sommer der weißen Nase genannt. Mutet ihnen nicht zu, den ganzen Aufprall abzufangen. Oft lässt es sich nicht vermeiden – in neun von zehn Fällen, wenn man aus zu großer Höhe fällt, lässt es sich nicht vermeiden -, aber dann riskiert ihr, euch was zu brechen. Die Hüfte, das Bein, das Sprunggelenk. Am ehesten wohl das Sprunggelenk. Denkt dran, die Schwerkraft ist die Mutter von allem. Gebt ihr nach. Lasst sie euch auffangen. Gebt in den Knien nach, kauert euch zusammen und rollt ab.
    Em schlug auf dem terracottaroten Plattenboden auf und gab in den Knien nach. Gleichzeitig warf sie ihr Gewicht zur Linken, zog den Kopf ein und rollte über die Schulter ab. Sie spürte keinen Schmerz – keinen unmittelbaren Schmerz -, aber ein gewaltiger Ruck durchfuhr sie, als wäre ihr

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