Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
es diesmal aber, aufrecht zu bleiben. Durch pures Glück, wie ihr schien, da er eigentlich schon halb ohnmächtig sein musste.
Fast wollte sie ihn gehen lassen, im Glauben, dass er durch die Schwingtür flüchten würde, wie sie es an seiner Stelle getan hätte. Dann mahnte sie ihr Vater, sehr ruhig, in ihrem Kopf: »Er ist hinter dem Messer her, Kindchen.«
»Nein«, knurrte sie wütend. »Das kriegst du nicht.«
Sie wollte um den Küchenblock herumrennen, um ihm den Weg zu versperren, aber solange sie die zerschmetterten Reste des Stuhls wie eine verdammte Eisenkugel hinter sich herschleppte – er hing noch immer mit Klebeband an ihrem linken Knie – konnte sie nicht rennen. Der Stuhl polterte gegen den Küchenblock, schlug ihr gegen den Hintern, war darauf erpicht, ihr zwischen die Beine zu geraten, um sie zu Fall zu bringen. Er schien auf seiner Seite zu sein, und sie war froh, dass sie ihn zerschmettert hatte.
Pickering erreichte das Messer – es lag direkt an der Türschwelle – und warf sich darauf wie ein Footballspieler, der sich den Ball sichern wollte. Er röchelte aus tiefster Kehle. Em langte an seiner Seite an, als er sich gerade umdrehte. Lauthals schreiend, drosch sie immer wieder mit der Armlehne auf ihn ein, wohl wissend, dass der Stock nicht schwer genug war und längst nicht so viel Schlagkraft besaß, wie sie gern aufgebracht hätte. Sie sah, wie ihr rechtes Handgelenk anschwoll, wie es sich gegen die Gewalt auflehnte, die ihm angetan worden war, als erwartete es, diesen Tag zu überleben.
Pickering brach auf dem Messer zusammen und rührte sich nicht mehr. Sie trat einen Schritt zurück und rang nach Luft, und wieder schwirrten diese kleinen weißen Kometen durch ihr Sichtfeld.
In ihrem Kopf sprachen Männer. Das war bei ihr nichts Ungewöhnliches, und nicht immer unwillkommen. Manchmal schon, aber nicht immer.
Henry: »Schnapp dir das verdammte Messer, und ramm es ihm zwischen die Schulterblätter.«
Rusty: »Nein, Kindchen. Geh nicht zu nah an ihn heran. Er stellt sich bloß tot.«
Henry: »Oder in den Nacken. Das ist auch gut. In seinen stinkenden Nacken.«
Rusty: »Unter ihn zu greifen, wäre so, als würdest du die Hand in eine Packpresse stecken, Emmy. Du hast nur zwei Möglichkeiten: Schlag ihn tot …«
Henry, in widerstrebendem Zugeständnis: »... oder lauf.«
Nun ja, vielleicht. Und vielleicht auch nicht.
An dieser Seite des Küchenblocks gab es eine Schublade. Sie riss sie in der Hoffnung auf, noch ein Messer zu finden – jede Menge Messer: Bratenmesser, Filetiermesser, Steakmesser, Brotmesser. Oder wenigstens ein verdammtes Butter messer. Stattdessen präsentierte sich ihr ein Sammelsurium von diversen Küchenwerkzeugen aus schwarzem Plastik: ein paar Pfannenheber, eine Suppenkelle und eine dieser großen Schaumkellen. Es gab noch etlichen anderen Kram, aber das Gefährlichste, worauf ihr Auge fiel, war ein Kartoffelschäler. »Hören Sie«, sagte sie. Ihre Stimme war rau, fast guttural. Ihre Kehle war trocken. »Ich will Sie nicht umbringen, aber ich werde es tun, wenn Sie mich dazu zwingen. Ich habe hier eine Fleischgabel.Wenn Sie versuchen, sich umzudrehen, stoße ich sie Ihnen in den Nacken, bis sie vorn wieder rauskommt.« Glaubte er ihr? Das war die eine Frage. Sie war sich sicher, dass er absichtlich alle Messer, außer dem unter ihm, aus der Küche entfernt hatte, aber konnte er sich sicher sein, dass er keines der anderen scharfen Werkzeuge vergessen hatte? Die meisten Männer hatten keine Ahnung, was sich in ihren Küchenschubladen befand – das wusste sie vom Leben mit Henry und vor Henry vom Leben mit ihrem Vater -, aber Pickering war nicht wie die meisten Männer und diese Küche nicht wie die meisten Küchen. Eher wie ein Operationssaal. Angesichts dessen, wie benommen er war ( war er benommen?) und dass er glauben musste, eine Gedächtnislücke könnte ihm zum Verhängnis werden, war es denkbar, dass er auf den Trick hereinfiel. Nur war da noch eine andere Frage: Hörte er sie überhaupt? Und wenn ja, verstand er, was sie sagte? Ein Trick konnte nicht funktionieren, wenn die Person, die man austricksen wollte, gar nicht begriff, was auf dem Spiel stand. Aber sie würde hier nicht länger herumstehen und hin und her überlegen. Das wäre das Dümmste, was sie tun könnte. Sie bückte sich, ohne die Augen von Pickering abzuwenden, und hakte die Finger unter den letzten Klebstreifen, der sie noch an den Stuhl band. Die Finger der rechten Hand wollten
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