Sunshine Ranch 04 - Myriams letzte Chance
dröhnte, und wippten mit ihren schwarz gefärbten Schöpfen.
„A…iiii… aaa…uu…uumm!“, rief Sarah.
„U…eee…ääää …eiiiii…!“, brüllte Tori. „Aaaa…ooo…aaa…eee!“
Ihre Stimmen waren zu schwach. Gegen den Lärm der E-Gitarren, Synthesizer und Bässe hatten sie keine Chance.
Die Jugendlichen beachteten sie gar nicht. Wahrscheinlich hatten sie sie noch nicht einmal bemerkt. Ein großer hagerer Typ, der Augen und Lippen schwarz geschminkt hatte, zog eine Packung Kippen aus der Lederjacke, schüttelte ein paar Zigaretten heraus und bot sie der Runde an. Als Erste griff ein Mädchen zu, das Myriam den Rücken zudrehte, sodass sie nur die hochtoupierten Haare und den großen, nietenverzierten Totenkopf auf der Rückseite ihrer Lederjacke sah. Der kam ihr allerdings irgendwie bekannt vor.
Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie die Jacke schon einmal gesehen hatte. Da drehte das Mädchen den Kopf zur Seite, um sich von dem hageren Typ Feuer geben zu lassen.
„E…le!“, rief Tom, der direkt neben Myriam stand.
Merle. Natürlich. Merle Bayer ging wie die Pferdemädchen aufs Friederike-Fliedner-Gymnasium. Und sie war bekannt wie ein bunter Hund. Das lag einerseits an ihrem Aussehen: Merle war Emo. Sie hatte mehrere Tattoos, vier Augenbrauen-, ein Nasen-, ein Zungen- und zwei Lippenpiercings und schwarz-rot gefärbte Haare. Und sie sah nicht nur hart aus, sie benahm sich auch so. Merle machte gerade zum zweiten Mal die Neunte, in den letzten drei Jahren hatte sie mindestens fünf Verwarnungen und drei Schulverweise bekommen. Sie rauchte und nahm Drogen, und ihr Freund war achtzehn und hatte bereits im Jugendknast gesessen. Zumindest waren das die Gerüchte, die man so hörte.
Wenn man Merle zusammen mit ihren verrückten Freunden traf, wechselte man besser die Straßenseite oder verdrückte sich in einen Hauseingang. Aber wenn die anderen nicht dabei waren, war sie eigentlich okay. Myriam hatte sie einmal in der Straßenbahn getroffen und sie hatten sich bestimmt zehn Minuten lang ganz normal unterhalten.
Aber jetzt war sie nicht allein. Jetzt war sie mit fünf durchgedrehten Freunden zusammen. Ein fetter Typ mit einer viel zu kurzen Vintage-Jacke hievte gerade einen Bierkasten vom Anhänger an seinem Motorrad.
Der lange Dürre öffnete währenddessen eine Pulle nach der anderen mit seinem Feuerzeug und verteilte sie an seine Kumpel. Dann hob er seine eigene Flasche hoch und prostete den anderen zu.
„Runter damit!“, schrie er.
Seine Stimme hallte laut und deutlich zu ihnen herüber.
Weil die Musik nämlich verstummt war.
Die Pferdemädchen rissen die Augen auf.
„Was ist denn jetzt los?“, fragte der Lange. „Ist die Scheißsicherung schon wieder rausgeflogen?“
„Nein“, erwiderte eine hohe, leicht zittrige Frauenstimme. „Das war ich.“
„Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte Sina.
„Frau Fischer“, flüsterte Ayla.
Die alte Frau Fischer und ihr Mann wohnten unmittelbar neben der Sunshine Ranch. Das spießige Rentnerpaar ging Sue seit Jahren auf die Nerven, weil sie sich ständig über den Pferdegestank, das Ziegengemecker, das Hühnergegacker und das Kindergeschrei beschwerten, das von der Ranch zu ihnen herüberdrang. Sobald ein Pferdeapfel auf ihrer Einfahrt lag oder der Kirschbaum zu weit über den Zaun wucherte, alarmierten sie das Ordnungsamt. Aber heute hatte Frau Fischer gar nicht erst abgewartet, bis ihr die Obrigkeit zu Hilfe kam. Heute war sie einfach auf den Bolzplatz marschiert und hatte den Verstärker der Emos eigenhändig ausgeschaltet.
„Das ist eine Un-ver-schämt-heit!“, erklärte sie mit vor Empörung bebender Stimme.
Die Emos starrten sie an, als wäre sie eine übernatürliche Erscheinung, ein Gespenst oder ein Engel mit einem Flammenschwert. „Guckt euch die Alte an“, meinte schließlich ein Junge mit zwei Lippenpiercings, die aussahen wie Vampirzähne. „Die denkt, die kann uns was erzählen, die Alte.“
„Mach die Musik wieder an, Heiko“, forderte ihn der Dicke auf.
„Schluss mit dem Theater!“ Plötzlich stand Sarah neben Frau Fischer. Wie war sie nur so schnell auf das andere Grundstück gekommen?, fragte sich Myriam. Sie hatte überhaupt nicht mitgekriegt, dass Sarah über den Zaun geklettert war.
Mit hocherhobenem Kopf blickte Sarah dem Jungen mit den Lippenpiercings entgegen. Als er sie fast erreicht hatte, trat sie einen Schritt nach vorn und stellte sich vor Frau Fischer und den Verstärker.
Der Junge
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