Surf
Francisco Bay – war eine ideale Heimat, um den Wellen nahe zu sein. Santa Cruz, ein unprätentiöser Badeort mit einer kleinen Uni, bevölkert die Klippen an der Nordseite und endet jäh an den Feldern und Hügeln der offenen Küste. Südlich von Santa Cruz ziehen sich Kleinstädte zehn bis zwölf Meilen an der geschützten Bucht entlang, bis sich schließlich das Farmland des Sahnas Valley bis zur Fischerei- und Touristenstadt Monterey an der Südspitze der Bucht erstreckt. Ich arbeitete zwei Tage in der Woche als Aushilfsdozent an der Uni und verdiente genug, dass ich mir dort auf genau diesem Küstenstreifen ein Zimmer in einem zweistöckigen, mit Schindeln gedeckten Haus mieten konnte. Das Haus hatte große Giebel und war grün gestrichen; hier und da standen unter den Pfirsichbäumen und Palmen im Vorgarten ein paar von den Studenten angefertigte Skulpturen, und der Schuppen für die Surfbretter war so alt, dass er noch von handgeschmiedeten Nägeln zusammengehalten wurde. Das Haus war als Sommerdomizil erbaut worden, zu einer Zeit, als sich die Felder noch an der Steilküste entlangzogen. Innen war es mit altem Redwoodholz getäfelt, was es warm und gemütlich machte, wenngleich die Bohlen ziemlich schief waren. Die Böden neigten sich hierhin oder dorthin, keine Tür saß ganz richtig in ihren Angeln, und bei starkem Wind schwankte das ganze obere Stockwerk leicht. Ein paar Renovierungsarbeiten hätten dem Haus durchaus gut getan: vom Schornstein war nach dem letzten Erdbeben nur noch ein Haufen Backsteine übrig geblieben, die Pinienholzböden waren abgewetzt, an der Decke im Badezimmer zeigten sich schwarze Schimmelflecken, die Türrahmen wiesen zahllose Löcher von Reißzwecken auf, die Abflüsse waren nicht ganz frei, im ersten Stock gab es kein Warmwasser, und in den meisten Ecken hockten Spinnen. Trotz der sehr niedrigen Miete bot mein Schlafzimmer jedoch einen unverbauten Blick aufs Wasser (zur einen Seite die offene Bucht, zur anderen die Brandung an der Küste), die Fenster öffnete man nach außen wie Flügeltüren, und da die Wände, die Fußböden, die Decken und sogar die Fensterrahmen in tiefem Rotbraun gestrichen waren, hatte man den Eindruck, sich in der Offiziersmesse eines alten Segelschiffs zu befinden.
In den Jahren zuvor hatte ich in einer Stadt voller bekannter Gesichter gelebt, inmitten sehr guter Buchläden und thailändischer, mexikanischer, toskanischer und mediterraner Restaurants. Direkt nebenan gab's erstklassigen Kaffee, und ich hatte, wie gesagt, mit acht Freunden im selben Haus gewohnt. (In der Nähe verlief ein Highway, und mitten in der Nacht, wenn die Geräusche der Stadt verklungen waren, erzeugte die Schnellstraße ein brüllendes Zischen wie die Brandung.) Meine Freunde nickten meistens mit gezwungener Begeisterung, wenn ich erklärte, ich wolle ans Meer ziehen; es war die Art von Schritt, die sich großartig anhört , wie alle zugaben, aber ihre Reaktion ließ mich auch wissen, dass sie selbst einen solchen Fehler nie machen würden. Aber ich konnte nicht klagen, denn als ich zum ersten Mal in Santa Cruz auf meinem noch nicht bezogenen Futon aufwachte, wehte eine neblige Brise durch die unverhängten Fenster, brüllten die Seelöwen sehnsüchtig unter der Pier, und das Kabbelwasser erzeugte ein leichtes, gurgelndes Geräusch. Die Reisetaschen mit den Kleidungsstücken waren noch nicht ausgepackt, die Wände des Schlafzimmers noch ohne jeden Schmuck, und auf der Holzveranda trank ich Kräutertee (ich fand es am besten, in einer solchen Zeit existenzieller Unsicherheit auf Koffein zu verzichten) und aß Müsli zum Frühstück. Der grüne Farbanstrich blätterte, die Dielen waren wellig und lose, über ein Spalier rankte sich eine Glyzinie zum Badezimmerfenster empor – ein typischer Spätsommermorgen, an dem die Sonne über dem Land gerade den Nebel vertrieb. Barfuß saß ich im feuchten Gras und las die Lokalzeitung, nahm mir sogar die Zeit für die Titelgeschichte über ein Treffen des Lehrer-Eltern-Ausschusses. Ich nickte einem älteren Herrn zu – einem Nachbarn, den ich bald besser kennen lernen sollte, mit langem, blondem Pferdeschwanz und wettergegerbten, schönen Gesichtszügen –, der zur Steilküste schlenderte, um sich seine tägliche frische Brise um die Nase wehen zu lassen. Ich war 27 Jahre alt und wohnte zwischen Rentnern und offenkundig Arbeitslosen, hatte weder einen Verkäufer- noch einen Bürojob … da war es absolut notwendig, tief durchzuatmen,
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