Surf
um Schwindelanfälle abzuwehren. Mit einer weißhaarigen Frau, die auf der anderen Seite energisch Unkraut jätete, tauschte ich einen Guten-Morgen-Gruß aus. Wie ich später erfuhr, lebte Emma allein, und zwar recht glücklich. Am frühen Morgen ging sie am Strand spazieren, hielt energisch ihren Garten in Schuss, fuhr einen pinkfarbenen 65er Mustang und bekam regelmäßig Besuch von ihren wohlerzogenen Enkelkindern.
Und während ich so in der Zeitung blätterte, fand ich auf der Seite mit dem Wetterbericht ein farbiges Symbol mit einem Surfer, daneben den Text: «Kaum Swell, an den besten Stellen etwa sechzig bis neunzig Zentimeter.» Aber wo? Diejenigen, die es wissen, ziehen los; diejenigen, die es nicht wissen, bleiben zu Hause; niemand, der Bescheid weiß, wird einem sagen, wo, und zwar damit man dort eben nicht hinläuft. Auch nicht, wann man los muss, bei welchem Gezeitenstand, bei welchem Wind und welcher Dünung – das alles muss man ganz allein herausfinden. Alle Städte mit Surfern haben allgemein bekannte Surfspots, vom Bürgersteig aus gut sichtbar, gesäumt von Parkplätzen und bei der geringsten Andeutung einer Brandung überfüllt von dreißig lebenslänglichen Einheimischen. Aber die Chancen eines Ortsfremden, ein paar Brecher abzubekommen, sind gering. Und grünere, weniger besuchte und weiter außerhalb gelegene Weiden sind schwer zu finden: Sie sind auf keiner Karte, in keinem Surfguide verzeichnet und werden nie in Anwesenheit Fremder erwähnt. Man gestatte mir einen Vergleich mit einer anderen Sportart, die ich gut kenne: das Camp von Felskletterern im Yosemite-Nationalpark, sechs Uhr in der Frühe, der Himmel hinter dem Half Dome hellt sich gerade auf. Du packst die Rucksäcke, während dein Partner sich einen Kaffee aufbrüht und ein spindeldürrer Typ mit wirren Haaren im Nachbarzelt fest verklebte Wasserflaschen in eine übergroße Segeltuchtasche schiebt – ein untrügliches Anzeichen dafür, dass bedeutende Dinge anstehen. Du bietest ihm einen Kaffee an, doch in seiner Thermosflasche dampft bereits Peet's 101 Blend; so kommt man dann ins Reden, erörtert die Wettervorhersage, tauscht sich über Ängste aus und über Plätze, wo man wild zelten kann, verrät vielleicht sogar den Weg zu einer geheimen heißen Quelle. Nachdem die Rucksäcke gepackt sind, der Kaffee getrunken ist, wird es Zeit, aufzubrechen, und man wünscht sich gegenseitig viel Glück und Hals- und Beinbruch und geht seiner Wege. Etwas Derartiges versuche man einmal irgendwo am Pacific Coast Highway: wieder sechs Uhr morgens, Nebelschwaden wabern durch die Redwoods, du stehst am Tresen des durchgehend geöffneten Ladens Schlange für einen Becher Kaffeeplörre und ein verschrumpeltes Zimtbrötchen in Zellophan. Da siehst du zwei nett aussehende Typen im Surfer-Outfit: Surfer-Sweatpants, gefütterte Ugg-Stiefel (eines der auffälligeren Stücke der Surfermode, ideal für kalte, feuchte Füße nach einer langen Session), Hang-Ten-Revival-Sweatshirts (hergestellt in der Phase, als alle Dinge aus den frühen sechziger Jahren zum Fetisch wurden («Bitchin' Before You Were Born») und Surfshop-Mützen. Ein bisschen neu in der Gegend, fragst du sie nach Tipps. Werden sie dir etwa vom Wanderriff auf der anderen Seite der Farm erzählen? Oder von dem abgelegenen Strand mit der perfekten Sandbank? Warnen sie dich vor den Untiefen direkt neben dem Startplatz, oder weihen sie dich gar in das Geheimnis ein, das Wellentop anzupaddeln, bevor es zu steil ist?
«Nee», knurrt der Kleinere von beiden, ganz offensichtlich total genervt, weil er mit dir reden muss, «keine Ahnung.»
Du bist ein bisschen erstaunt, denn du weißt , dass du im Surfer vom letzten Monat gesehen hast, wie der Mistkerl eine Riffwelle vor den Fidschi-Inseln gesurft ist, und fragst die beiden ganz freundlich, wohin sie wollen. Aber sie sehen dich kaum an; die Frage hat ihnen die Sprache verschlagen – was für eine Frechheit! Derselbe Typ, dem seine Mutter besser Manieren hätte beibringen sollen, grummelt missmutig: «Nach Norden.» Was so viel heißt wie: Wenn ich dir das verrate, kommst du vielleicht auch da hin, und dann müsste ich dich umbringen. Man kann Bildunterschriften als Indiz werten: Während Freeclimbing-, Ski-, Biker-, Segel-, Tauch- und Rafting-Magazine jeden Ort auf jedem Foto benennen, samt detaillierten Informationen über Anreise und Campingmöglichkeiten, lassen Surf-Zeitschriften nichts unversucht, all dies zurückzuhalten: Es freut uns,
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