Survive
also wird die Anzeige, die Sicherheitsgurte bitte geschlossen zu halten, anbleiben, während wir unser Möglichstes tun, dem Sturm einen Schritt voraus zu sein. Wir werden ein wenig weiter nach Norden fliegen, als wir das normalerweise tun, aber sobald wir diese Wetterfront hinter uns haben, korrigieren wir unseren Kurs und sollten dann wie geplant in Chicago landen. Also, zeigen Sie sich bitte kooperativ und bleiben Sie möglichst auf Ihren Plätzen. Danke, dass Sie sich dafür entschieden haben, mit West Air zu fliegen, und genießen Sie Ihre Reise.«
»He, was geht da ab, Alter?«, sagt Paul laut. Er sieht mich wieder mit diesem schiefen Lächeln an, das ich bereits verabscheue. Redet er mit mir? Oder antwortet er dem Piloten? Ich sehe ihn nicht an. Ich ziehe die Decke aus dem Netz im Sitz vor mir und wickle mich darin ein. Ich schließe die Augen und warte. Ein weiterer unerwarteter Vorteil meines Plans, denke ich. Ich werde den Akzent dieses Arschlochs aus Massachusetts nie wieder hören müssen.
Kapitel 10
Wie durch ein Wunder bin ich eingenickt. Ich nehme es jedenfalls an, denn als ich die Augen öffne, ist es stockfinster, bis auf einige Leselampen in den Reihen vor mir. Das Flugzeug ist fast leer, daher sieht es hier drinnen aus wie in einer Geisterstadt. Paul schläft, eine Karte an den Bauch gelehnt, sein Buch unter den Ellbogen geklemmt.
Ich schaue auf meine Taschenuhr. Es ist nach fünf. Ich krame einen Block aus meiner Tasche heraus. Über diesen Brief habe ich tausendmal nachgedacht. Ich suche mir eine feste Unterlage für den Block, aber wir fliegen durch Turbulenzen, und das erschwert das Schreiben. Glücklicherweise ist es sehr kurz, was ich zu sagen habe.
Liebe Mum,
ich gehe zu Dad. Wir sehen uns auf der anderen Seite. Mach dir keine Vorwürfe. Ich wurde damit geboren, und da lässt sich nun mal nichts machen.
Alles Liebe, Jane
Ich falte das Blatt zusammen und schreibe vorn »Mum« drauf. Dann stecke ich es in das Netz des Sitzes vor mir und versuche, es so zurechtzuschieben, das jemand es finden wird. Plötzlich überkommt mich die Angst, dass der Brief unbemerkt bleiben und meine Mutter ihn niemals lesen wird. Dass sie sich für den Rest ihres Lebens die Schuld an meinem Tod geben wird. Ich starre das Blatt eine Weile an, dann nehme ich es wieder heraus und stopfe es in meine Hosentasche. Ich öffne meinen Sicherheitsgurt und drehe mich in meinem Sitz in Pauls Richtung. Ich steige über ihn hinweg, vorsichtig balancierend, bis ich das hintere Bein herüberheben kann. Er regt sich für einen Moment, wacht aber nicht auf.
Die Toilette ist direkt hinter mir. Ich schaue auf meine Uhr. Seit dem Abflug ist über eine Stunde vergangen. Langsam wird die Zeit knapp. Wenn ich die Pillen jetzt nehme, sollte ich tot sein, bis wir in Chicago landen. Ein kurzer Schauer läuft mir über den Rücken, als ich mir vorstelle, wie sich mein Körper ans Leben klammert und ich auf einer fahrbaren Krankentrage durch den O’Hare-Flughafen gerollt werde. Das wäre die Hölle. Konzentrier dich auf jetzt, Jane.
Eine einsame Stewardess sitzt im vorderen Teil des Flugzeugs und blättert in einer Zeitschrift, wahrscheinlich erleichtert darüber, dass sie dank der Turbulenzen nicht den Getränkewagen den Gang hinunterschieben und Bestellungen aufnehmen muss wie eine Kellnerin. Endlich erlebt mein Plan sein glorreiches Finale. Ich öffne die Toilettentür und trete ein. Ich schließe die Tür und verriegle sie. Ich drehe mich um und setze mich auf die Toilette. Ich schlage die Hände vors Gesicht und frage mich, was meine Mutter wohl gerade macht. Ich weine ein wenig, nicht weil ich Angst habe, sondern weil ich so erleichtert darüber bin, hier zu sein, und gleichzeitig traurig wegen meiner Mutter. Irgendetwas wird mit ihr passieren, wenn sie davon hört, etwas, was bleibende Spuren hinterlässt. Ich bin traurig deswegen, aber es reicht nicht, um mich aufzuhalten.
Ich krame in meiner Tasche und ziehe meine Tabletten heraus. Eine nach der anderen drücke ich aus der Verpackung. Der unruhige Flug erschwert die Sache, aber ich schaffe es, einen kleinen weißen Pappbecher mit allem zu füllen, was ich brauche. Ich nehme mir einen weiteren Becher aus dem Spender und befülle ihn in der winzigen Spüle. Ich beruhige mich.
Ich spreche noch einmal mein Abflugsgebet und hoffe, dass meine Engel mich nach Hause tragen werden. Was für den einen Flug funktioniert, sollte für alle funktionieren, sage ich mir. Ich öffne den
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