Survive
Mund und greife nach den Pillen. Die Maschine gerät in ein Luftloch und hüpft auf und ab. Ich stütze mich schnell mit der freien Hand an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Ich mache das Kreuzzeichen. Ich stehe nun da und betrachte mich noch einmal im Spiegel, ein letztes Mal. Es sind die Augen, immer die Augen. Sie sprechen ihre eigene Sprache. Was sehe ich in ihnen? Hilflosigkeit. Trauer. Einsamkeit. Zerfall. Verzweiflung. Ich sehe meinen Urgroßvater, seine Augen sind wie meine. Ich habe ihn nie kennengelernt, aber die Dunkelheit hat mit ihm begonnen oder vielleicht sogar schon früher. Ich weiß, dass seine traurigen Geheimnisse meine eigenen sind.
Ich führe den Becher mit den Tabletten an die Lippen und greife nach dem Wasser.
Es gibt einen heftigen Schlag, und es knallt. Das Licht flackert, dann geht es aus. Alles schwarz. Für einen Moment glaube ich, ich sei bereits in jener dem Tod vorangehenden Traumspirale, nach der ich mich gesehnt habe. Aber dann sackt der Boden des Flugzeugs unter mir weg. Mir werden die Füße weggerissen, und mein Kopf schlägt an die Decke. Die Pillen springen mir aus der Hand, als würde ein Schrotgewehr seine Munition verballern.
Auf meinem Weg zum Boden pralle ich gegen die Wand, und das Licht geht flackernd wieder an. Mir ist schwindlig. Ich höre Schreie von außerhalb der Toilette, und ich frage mich, ob sie versuchen, mich rauszuholen. Doch kurz darauf sagt die Stewardess allen, dass sie Ruhe bewahren sollen. Ich versuche aufzustehen, aber ich bin zu benommen dazu. Ich spüre etwas Warmes an meiner rechten Wange, und dann entdecke ich rote Tropfen auf dem Boden vor mir. Ich greife mir an den Kopf, und meine Hand ist sofort voll mit klebrigem rotem Blut.
Ich drücke mich gegen die Wände neben mir, schaffe es allerdings nur, mich in eine geduckte Stellung neben der Toilette und dem Waschbecken zu manövrieren. Ein zweiter Knall, und dann wird das ganze Flugzeug schwarz. Wieder sackt der Boden unter mir weg, aber diesmal bleibe ich neben der Toilette eingekeilt.
Ein rotes Licht leuchtet kurz über mir auf, dann erstirbt es ebenfalls. Die Motoren verstummen. Ich kann spüren, dass das Flugzeug einfach nur noch durch die Luft gleitet und auf und ab geworfen wird. Es reagiert nicht mehr. Eine gefühlte Ewigkeit schweben wir wie ein toter Körper, der flussabwärts ins Nirgendwo treibt. Ich frage mich für den Bruchteil einer Sekunde, wo ich bin, erinnere mich an meine Engel und überlege, ob sie das Flugzeug noch halten. War es das? Werde ich auf diese Art sterben?
Dann wieder ein tiefer Sturz in den Abgrund. Panik packt mich, und ich schreie so laut, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien habe. Als ich endlich wieder atme, würge ich an den Pillen, die noch in meinem Mund sind, und huste sie aus, während ich gleichzeitig versuche, sie herunterzuschlucken. Ich höre Angstschreie aus dem vorderen Teil des Flugzeugs, fange an zu schluchzen und bete wieder und wieder. Ich begreife, dass der Bug des Flugzeugs nach unten zeigt, und der Winkel wird von Sekunde zu Sekunde steiler. Und dann liegt der Flieger wieder gerade in der Luft, und das Heulen des Windes wird zum Kreischen eines sterbenden Vogels.
Mein Magen tanzt und flattert, und ich werde ohnmächtig. Ich erwache eine Minute oder eine Stunde später. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen ist. Aber es ist still und düster, und für einen Moment denke ich, das war’s jetzt. Der Himmel ist schwarz und kalt und still; das ist das Gegenteil der Hölle, oder nicht? Ich betaste erneut die Seite meines Gesichts, das Blut ist klebrig und immer noch feucht. Und dann sackt das Flugzeug plötzlich ab, eine Serie von gewaltigen Turbulenzen wirft mich rüttelnd auf und ab. Und dann: Peng . Schwärze legt sich über alles.
TEIL 2
ÜBERLEBEN
Kapitel 11
Ich wache auf. Der Raum rotiert wild um mich herum, aber ich spüre die Schwerkraft, die mich nach unten drückt. Ich lege eine Hand an die Wand und stütze mich ab. Ich atme tief durch. Nach einigen Sekunden verlangsamt sich das Wirbeln, und nur Übelkeit bleibt zurück. Ich berühre mit der anderen Hand sanft meine Kopfhaut. An meiner Stirn ist eine Beule von der Größe einer Limone. Ich reibe sie mit den Fingerspitzen, und verkrustetes Blut krümelt herunter.
Es ist dunkel, doch meine Augen gewöhnen sich rasch daran, und ich erkenne eine Flugzeugtoilette. Ich erinnere mich, wo ich bin, aber ich weiß nicht mehr, warum. Warum haben sie mich
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