Susannah 6 - Auch Geister sind romantisch
Jesse fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, was wir noch für ihn tun können. Außer die Sache mit der Krankenversicherung, da kann ich sicher helfen. Ich komme bald zurück, soll ich Ihnen etwas mitbringen? Haben Sie schon was gegessen?«
Der Gedanke, irgendetwas an dem dicken Kloß in meinem Hals vorbeizuquetschen, war so abwegig, dass ich schmunzeln musste.
»Nein, danke«, sagte ich nur.
»Also gut.« Pater Dominic wollte den Raum verlassen, blieb aber im Türrahmen stehen und drehte sich noch einmal um.
»Es tut mir leid, Susannah«, sagte er leise. »Es tut mir leid, dass ich nicht für Sie da war, als … als es passiert ist. Und ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich es bedauere, dass es so enden musste.«
Damit ging er.
Ich stand einen Moment regungslos da, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann erst begriff ich den Sinn seiner Worte.
Das war zu viel für mich.
Pater Dominic hatte recht. Das hier war das Ende. Hier und jetzt. Ich konnte den Gedanken daran verdrängen, so lange ich wollte, aber es änderte nichts an der Tatsache. Jesse lag im Sterben, hier vor meinen Augen. Und es gab nichts, wirklich nichts, was ich dagegen hätte tun können.
Das Schlimmste daran war: Es war meine Schuld. Ich hatte es zu verantworten, dass er jetzt für immer von mir ging. Nicht mal der Gedanke, dass er es dort, wo er hinging, besser haben würde als in seinem Halbleben mit mir, spendete mir Trost. Der Schmerz überdeckte einfach alles.
Ich ließ mich auf den Stuhl neben Jesses Krankenbett fallen. Ich weinte und weinte und konnte vor lauter Tränen nicht mehr aus den Augen schauen. Aber ich weinte leise, denn eine Schwester, die mit Beruhigungsmitteln hereinplatzte, war das Letzte, was ich jetzt noch gebraucht hätte. Ich wollte nur noch meine Mom. Oder meinen Dad. Wo war mein Dad, jetzt wo ich ihn wirklich brauchte?
»Susannah.«
Ich dachte zurück an Jesses Grab, mit dem Stein, den Pater Dominic und ich gekauft hatten. Was jetzt wohl in dem Grab war, nachdem Jesses Körper hier lag? Vermutlich nichts mehr. Es war wahrscheinlich leer.
Das würde es nicht mehr lange bleiben.
»Susannah.«
Wie es wohl in seiner Zeit aussah? Was taten Mr und Mrs O’Neil gerade? Vermutlich durchkämmten sie die verbrannten Überreste ihrer Scheune und stießen früher oder später auf ein Skelett. Ob sie herausfinden würden, dass es nicht Jesses Leiche war? Würde Jesses Familie jemals ihren Frieden mit dem tragischen Unglück machen können oder sich für alle Zeiten fragen, was wohl aus ihrem geliebten Sohn, aus ihrem geliebten Bruder geworden war?
Sie konnten ja nicht wissen, dass es Diegos Leiche war. Sie mussten das Gerippe für Jesses sterbliche Überreste halten. Die de Silvas würden den falschen Mann beerdigen.
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Na super. Jemand hatte sich herangeschlichen und sah mich hier sitzen, in Tränen aufgelöst. Tolles Timing. Durfte man sich jetzt nicht mal mal in Ruhe ausheulen?
»Jetzt nicht«, sagte ich gereizt und hob den Kopf. »Ich bin gerade nicht …«
Doch dann sah ich, dass die Gestalt neben mir leuchtete.
Kapitel 20
V or Schreck schoss ich senkrecht in die Höhe und stieß dabei meinen Stuhl um. Mein Herz raste wie wild und meine Augen waren plötzlich ganz trocken.
Neben dem Bett stand jemand und schaute auf Jesse hinunter.
Dieser Jemand war Jesse.
Ich blickte zwischen den beiden Jesses hin und her und konnte es einfach nicht begreifen.
Aber es war nicht wegzudiskutieren. Da waren zwei Jesses. Einer tot, einer lebendig.
Streng genommen: einer tot und einer so gut wie.
»J-Jesse …?« Ich wischte mir die getrockneten Tränen mit meinem Ärmel ab, der immer noch nach Rauch roch.
Jesse sah mich nicht an. Er starrte sich selbst an, wie er da leblos im Bett lag.
»Susannah«, flüsterte er. »Was hast du getan?«
Ich war so glücklich, ihn zu sehen, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich lief zu ihm hin und ergriff seine Hand.
»Jesse, ich bin zurückgereist, durch die Zeit!«, platzte es aus mir heraus.
Jesse löste seinen Blick von der Gestalt im Krankenbett und richtete seine durchdringenden Augen auf mich. Er sah nicht glücklich aus.
»Du bist zurückgereist? Slater hinterher? Obwohl ich dir gesagt hatte, dass ich das selber regeln will?«
Er war sauer. Ich hingegen war über jede Gefühlsregung, und sei es Ärger, so hocherfreut, dass ich ein Kichern nicht unterdrücken konnte. Damals wusste ich noch nicht, was es für ihn
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