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System Neustart

System Neustart

Titel: System Neustart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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einer altmodischen Fahrradklingel, die aus weiter Ferne eine stille Straße heraufhallte. Sie starrte es streng an, um es zum Schweigen zu bringen.
    »Hochgradige Hysterie«, sagte sie.
    Es läutete weiter.
    Drei Schritte, und sie hatte die Hand darauf gelegt. Der Hörer war so absurd schwer wie immer.
    »Koprophagie«, sagte sie energisch, als würde sie sich im Krankenhaus in einer betriebsamen Abteilung melden. »Hollis«, sagte er, »hallo.«
    Sie betrachtete den Hörer, der so schwer war wie ein alter Hammer und fast so verbeult. Die dicke Schnur, die verschwenderisch in gewebte burgunderrote Seide eingehüllt war, ruhte auf ihrem Unterarm.
    »Hollis?«
    »Hallo Hubertus.«
    Sie stellte sich vor, wie sie den Hörer in das brüchige antike Rosenholz rammte und die greise elektromechanische Grille darin zerquetschte. Aber dafür war es jetzt zu spät. Die Grille war bereits verstummt.
    »Ich habe Reg getroffen«, sagte er. »Ich weiß.«
    »Er sollte Ihnen sagen, dass Sie anrufen sollen.« »Was ich nicht getan habe«, erwiderte sie. »Freut mich, Ihre Stimme zu hören«, sagte er. »Es ist spät.«
    »Dann wünsche ich Ihnen eine angenehme Nacht.« Es klang aufrichtig. »Ich werde morgen vorbeischauen, zum Frühstück. Wir fahren heute Abend noch zurück, Pamela und ich.«
    »Wo sind Sie?«
    »In Manchester.«
    Sie sah sich ganz früh ein Taxi zur Paddington nehmen - eine kurze Fahrt mit dem Heathrow Express. Ein Flug irgendwohin. Ein anderes Telefon, das in einem anderen Zimmer klingelte. Seine Stimme.
    »Manchester?«
    »Norwegischer Black Metal«, sagte er ausdruckslos. Vor ihrem geistigen Auge tauchte skandinavischer Volksschmuck auf, doch sie korrigierte sich sofort: die Musikrichtung. »Reg meinte, das könnte mich interessieren.«
    Großartig, dachte sie. Hin und wieder fand Inchmales subklinischer Sadismus ein würdiges Opfer.
    »Ich hatte vor auszuschlafen«, sagte sie, wenn auch nur, um nicht gleich klein beizugeben. Sie wusste, dass es ihr nicht gelingen würde, ihm aus dem Weg zu gehen.
    »Dann um elf«, sagte er. »Ich freue mich.«
    »Gute Nacht, Hubertus.«
    »Gute Nacht.« Er legte auf.
    Sie ließ den Hörer auf die Gabel sinken. Vorsichtig, um der unsichtbaren Grille nichts zu tun. Schließlich war es nicht deren Schuld. Und ihre auch nicht. Wahrscheinlich nicht mal seine.

2. Edge City
    Milgrim betrachtete die hundsköpfigen Engel in der Gay Dolphin Gift Cove.
    Ihre Häupter, die etwas weniger als drei Viertel der Originalgröße maßen, schienen aus der gleichen Gipsmasse geformt, aus der früher beunruhigend detaillierte Wandverzierungen hergestellt wurden: Piraten, Mexikaner, Araber mit Turbanen. Die gab es hier mit großer Wahrscheinlichkeit auch - immerhin war der Laden die reichhaltigste Fundgrube für amerikanischen Souvenirkitsch, die ihm jemals untergekommen war.
    Ihre Körper unter dem weißen, paillettenbesetzten Satin waren langgezogen und anscheinend menschenähnlich, schlank wie auf einem Gemälde von Modigliani, die Pfoten, in Anlehnung an mittelalterliche Statuen, fromm gekreuzt. Ihre Flügel erinnerten an Weihnachtsbaumschmuck, auch wenn sie für den Durchschnittsbaum zu groß gewesen wären.
    Das halbe Dutzend unterschiedlicher Rassen, das ihm hinter Glas entgegenblickte, ließ ihn vermuten, dass es sich dabei offenbar um Andenken zu Ehren verstorbener Haustiere handelte.
    Die Hände in den Hosentaschen, wandte er rasch den Blick ab, der sogleich an einem etwas bunter gemischten, wenn auch nicht weniger absonderlichen Durcheinander von Gegenständen hängenblieb, die das Motiv der Südstaatenflagge zierte. Tassen, Magnete, Aschenbecher, Statuetten. Er musterte einen kniehohen jungen Jockey, der statt des traditionellen Rings ein kleines rundes Tablett in der Hand hielt. Sein Kopf und die Hände waren grün wie bei einem Marsmenschen (vermutlich, damit niemand an der ursprünglichen Hautfarbe Anstoß nahm). Darüber hinaus gab es schreiend künstlich aussehende Orchideen, Kokosnüsse, in die die Gesichtszüge irgendeines Indianers geschnitzt waren, und abgepackte Sammlungen von Steinen und Mineralien. Er hatte das Gefühl, sich am Boden eines Greiferautomaten auf Coney Island zu befinden, wo sich seit Jahrzehnten lauter Dinge ansammelten, die niemand hatte herausholen wollen. Er schaute nach oben und stellte sich eine riesige, dreizackige Klaue vor, die sich unaufhaltsam herabsenkte, aber dort befand sich nur ein großer, mit einer dicken Lackschicht überzogener Hai, der wie

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