T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
Insel vor der Küste von Washington. Sie hatten keine Verbindung zum Festland außer mit Booten: mit ihrem Privatboot, einem schnittigen Kajütenkreuzer, den Wyatt angeschafft hatte, einem Ruderboot, mit dem man es nicht wirklich bis auf die andere Seite schaffte, oder mit der Fähre, die zweimal am Tag nach Anchorville übersetzte, vorausgesetzt, das Wetter erlaubte es.
Ava wusste, dass Church Island eine Zufluchtsstätte für ihre Ururgroßeltern gewesen war, die sich hier niedergelassen und den Großteil der Insel erworben hatten. Mit Holzfällerei und ihrer Sägemühle hatten die beiden ein Vermögen gemacht. Als weitere Menschen auf die Insel gezogen waren, hatte Stephen Monroe Church ihnen Bauholz und Vorräte geliefert, und – was das Wichtigste war – Arbeit gegeben.
Ava hatte sich immer gefragt, warum die Leute damals wohl nach Church Island gekommen waren. Warum hatten sie die Annehmlichkeiten des Festlands aufgegeben? Welches Ziel hatten sie vor Augen gehabt, oder, was wahrscheinlicher war, wovor waren sie davongelaufen?
Wie auch immer ihre Gründe ausgesehen haben mochten, sie hatten Stephen und seiner Frau Molly dabei geholfen, dieses grandiose Zuhause zu errichten, mit zwei Treppen, zwei Stockwerken – Erdgeschoss und Obergeschoss -, mit ausgebautem Dachboden samt den ehemaligen Dienstbotenquartieren sowie mit dem Untergeschoss, das heute nicht nur Jacobs Apartment beherbergte, sondern auch Lagerräume und Wyatts Weinkeller. Errichtet im viktorianischen Stil an einem der höchsten Punkte der Insel, bot Neptune’s Gate von dem westlichen Türmchen aus, das sich über dem Witwensteg erhob, eine Dreihundertsechzig-Grad-Aussicht. Der Witwensteg – so nannte man früher in Kapitänshäusern einen Aussichtspunkt, eine Art Balkon hoch oben auf dem Dach, von dem aus die Frauen nach ihren zur See fahrenden Männern Ausschau hielten. Soweit Ava wusste, war ihr Ururgroßvater Kapitän gewesen und hatte die Sägemühle erst später errichtet. Doch nicht nur vom Witwensteg aus hatte man einen fantastischen Blick aufs Meer, sondern auch aus den vielen Fenstern, die im Sommer das Licht der Sonne reflektierten. Jetzt, um diese Jahreszeit, in der Nebel und Regen, Graupel und Hagel vorherrschten, brachen sich die hellen Strahlen nur selten darauf.
Mit Lavendelseife und einem garantiert milden Shampoo wusch sich Ava Salz und Schmutz von Haut und Haaren. Das angenehm warme Wasser spülte die Furcht fort, die ihre Seele zu zerreißen drohte, linderte den Kummer und die Sorge um ihren verschwundenen Sohn.
Was hatte sie sich vorhin nur gedacht?
Noah war nicht auf der Pier gewesen.
Es war ihr getrübter Verstand, der ihr bereitwillig Streiche spielte, Überbleibsel des Traumes, die sie verwirrten.
Trotzdem wollte das Bild des Kleinen, wie er im wabernden Nebel auf dem Anleger stand, nicht weichen. Es war so unheimlich real.
Es ist nun zwei Jahre her … du musst loslassen …
Sie duschte den Schaum ab und stellte sich ihren Sohn als Vierjährigen vor, denn so alt wäre er jetzt, würde er noch leben.
Tränen stiegen ihr in die Augen, sie verspürte einen Kloß im Hals. Abrupt drehte sie sich um und wandte ihr Gesicht dem Wasserstrahl zu, damit er die Tränen fortspülte.
Als sie sich angezogen und die Knoten aus dem Haar gekämmt hatte, fühlte sie sich besser. Entspannter. Als stünde sie nicht länger mit einem Fuß über dem seelischen Abgrund.
Sie kam gerade aus dem Bad, als sie ein Klopfen an ihrer Schlafzimmertür vernahm.
»Ava?«, rief eine leise Männerstimme, dann öffnete sich die Tür, und Wyatt, ihr Ehemann, erschien auf der Schwelle.
»Ich dachte, du seist in Seattle«, sagte sie.
»Portland.« Er lächelte schief. Sein Gesicht drückte Besorgnis aus, sein hellbraunes Haar war zerzaust, als habe er mit den Fingern darin herumgewühlt.
»Oh. Richtig.« Sie erinnerte sich, dass er nach Süden gefahren war. Sein Kunde aus Seattle besaß Immobilien in Oregon, gegen ihn lief irgendeine Klage.
»Egal.« Wyatt machte einen Schritt auf sie zu. Sie spürte, wie sie sich verspannte, aber sie wich nicht zurück, nicht einmal, als er ihr eine verirrte Locke aus der Stirn strich. Seine Fingerspitzen fühlten sich auf ihrer Haut warm und vertraut an.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er und sah sie mit seinen haselnussbraunen Augen besorgt an. Immer wieder dieselbe Frage. Es war gleichgültig, wie sie darauf antwortete, es hatte ohnehin jeder längst seine eigenen Schlüsse gezogen.
»Ich würde
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