Tag der Buße
…«
»Yonasan …«
»Der hat’s ja nicht am Herzen.« Zu Decker gewandt sagte Jonathan: »Heute am Tisch haben alle eine große Klappe. Haben Sie also keine Hemmungen, sich genauso zum Idioten zu machen, wie wir das alle tun.«
»Du vielleicht!« Dann wurde Shimon wieder ernst. »Ich mache mir Sorgen um Mama. Sie sieht immer noch ein bißchen geschwächt aus.«
»Sie hat sich bestimmt meinen Virus eingefangen«, sagte Decker, ohne die Miene zu verziehen.
»Ihnen ging’s gestern abend schlecht?« fragte Shimon.
»Ziemlich.«
»Jetzt sehen Sie aber wieder ganz gut aus.«
»Es geht mir auch etwas besser.«
»Wie gefällt’s Ihnen in New York?« fragte Jonathan.
»Ich bin diese Enge nicht gewöhnt«, sagte Decker.
»Ja, das kann bedrückend sein«, sagte Jonathan. »Besonders wenn man viel Platz gewöhnt ist. Rina hat erzählt, Sie haben eine Ranch mit Pferden.«
»Eine kleine Ranch. Nur ein paar Hektar.«
»Tun Sie Ihre Polizeiarbeit auf Pferden?« fragte Shimon.
Decker starrte ihn an. Shimon hatte die Frage offensichtlich ernst gemeint. Decker räusperte sich und sagte: »Wir leben nicht in der Wildnis. Wir haben ganz normale Häuser, ganz normale Straßen …«
»Aber keine Bürgersteige«, sagte Jonathan. »Rina hat gesagt, es gäbe keine Bürgersteige.«
»Die größeren Straßen haben schon Bürgersteige«, sagte Decker. »Wie gut kennen Sie Rina, Jonathan?«
»Sie haben Straßen ohne Bürgersteige?« sagte Shimon.
»Es gibt einige Straßen ohne Bürgersteige«, sagte Decker. Dann wandte er sich wieder an Jonathan. »Unterhalten Sie sich oft mit Rina?«
»Wo geht man denn, wenn’s keine Bürgersteige gibt?« fragte Shimon. »Bei anderen Leuten über den Rasen?«
»Es gibt unbefestigte Seitenstreifen …«
»Wie urig«, sagte Jonathan.
»Unter urig versteh ich Straßen mit Kopfsteinpflaster«, sagte Decker. »Unsere Gegend ist kein bißchen urig.«
»Rina hat erzählt, bei euch in der Nähe wohnen viele Hell’s Angels«, sagte Jonathan.
»Nicht direkt in der Nähe …«
»Hell’s Angels, Bandenschießereien, Schießereien auf dem Highway und all diese verrückten Drogensüchtigen …« Shimon schüttelte den Kopf und rückte seinen Hut zurecht. »Da sagen die Leute, New York wär schlimm. Ich möchte wetten, ich bin hier sicherer als da, wo Sie leben. Weil ich hier Nachbarn habe, die mich kennen.«
»Rina sagt, in Los Angeles kennt niemand seine Nachbarn«, sagte Jonathan.
»Das stimmt so nicht.« Decker merkte, daß er sich in die Defensive gedrängt fühlte. »Na ja, irgendwo stimmt’s schon. Was hat Rina Ihnen noch erzählt, Jonathan?«
Jonathan antwortete nicht sofort. Dann sagte er: »Hat Rina Ihnen eigentlich erzählt, daß ich der beste Freund von ihrem verstorbenen Mann war? Yitz und ich sind zusammen aufgewachsen.«
»Yitz und Yonasan haben immer zusammen gelernt«, erklärte Shimon. »Jeden Abend, bis Yitz und Rina nach Israel gezogen sind. Die beiden waren einfach erstaunlich. Jedesmal wenn sie in der Bejss Midrasch studiert haben, haben sich die Leute um sie versammelt, um ihre erstaunlichen Geistesblitze mitzubekommen …«
»Das reinste Affentheater.«
»Damals hat es dir Spaß gemacht zu studieren, Yonie«, sagte Shimon. »Ich kann mich noch an das Feuer erinnern, das in deinen Augen loderte, wenn du etwas beweisen konntest.«
»Das war der glasige Blick, den man von zu wenig Schlaf kriegt.«
»Du hast es geliebt.« Shimmy wurde ernst. »Yitz hatte einen guten Einfluß auf dich. Jetzt ist er fort, und du bist ein Apikoros geworden. In nur einem Jahr haben wir euch beide verloren.«
Jonathan wirkte traurig. »Das ist nicht dasselbe.«
Shimon legte einen Arm um seinen Bruder und sagte: »Du hast recht, das ist natürlich nicht dasselbe. Ich wollte ja nur sagen, daß du deine Liebe zum Lernen verloren hast, als Yitz …«
»Dafür bezahl ich jetzt einen Therapeuten«, sagte Jonathan.
»Ach, bleib mir weg mit Therapeuten. Ich habe Vertrauen. Ich habe dich noch nicht aufgegeben.«
Jonathan schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Dann wandte Jonathan sich an Decker und sagte: »Ich hab Yitz immer so aufgezogen, wie ich das jetzt mit Ihnen mache.« Er drückte seine Zunge von innen gegen die Wange. »Er war ein guter Kerl.«
Erneut herrschte Schweigen. Jonathan gelang es, ein gut gelauntes Lächeln aufzusetzen. Dann boxte er Decker leicht gegen die Schulter. »Was Rina betrifft, da hab ich
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