Tag der Buße
sagte: Denk mal darüber nach, Peter.
Das Ergebnis: Er rang sich durch, bei ihr zu Mittag zu essen – zusammen mit ihrer Familie, weil er wußte, daß er dabei nur minimalen Kontakt mit ihr haben würde.
Ein Teil von ihm fragte sich: Warum tue ich das? Der andere antwortete: Weil du neugierig bist, du Trottel. Deshalb hast du doch auch vor dreiundzwanzig Jahren diesen Versuch gestartet.
Und er war neugierig. Auf dem Rückweg von der Schul gingen ihre Söhne neben ihm, und er konnte es sich nicht verkneifen, ab und zu verstohlene Blicke zu ihnen hinüberzuwerfen. Gleichzeitig versuchte der Detective in ihm, irgendwelche äußerlichen Ähnlichkeiten festzustellen.
Der Älteste war Shimon, von dem Rina gesagt hatte, daß er gut aussähe. Er war tatsächlich ein attraktiver Mann mit stark ausgeprägten Gesichtszügen. Decker schätzte ihn auf etwa achtunddreißig. Sein gestutzter schwarzer Bart war von grauen Fäden durchzogen. Deckers Schnurrbart hingegen war von einem rostigen Rot, ohne jede Spur von Weiß. Aus irgendeinem Grund gab ihm das ein merkwürdiges Gefühl von Überlegenheit, als ob seine väterlichen Gene besser waren. Obwohl Shimon dunkel war, gaben seine rosigen Wangen – vermutlich von der Kälte gerötet – seinem Gesicht ein bißchen Farbe. Er war knapp einsachtzig, hatte schwarze Haare und braune Augen und war muskulös gebaut – das war das einzige, was er mit Decker gemein hatte. Der Tradition entsprechend trug er ein weißes Festtagsgewand über seinem schwarzen Anzug. Es war ein sehr schöner Kittel – weiße Stickerei auf weißer Seide.
Als nächstes kam Ezra. Er war genauso groß wie Shimon, aber schlanker. Ezra hatte die gleiche Gesichtsfarbe wie sein Bruder, dunkle Haare und einen üppigen wilden Bart. Er trug eine Brille und zog beim Sprechen die Nase kraus. Immer wieder mußte Decker auf seine Ohren starren, die nach oben leicht spitz zuliefen – genau wie bei ihm und bei Cindy. Ezras Kittel spannte sich beim Gehen straff über der Brust. Seine Hände steckten in den Taschen des Gewandes.
Jonathan war der jüngste der Familie. Der konservative Rabbi war groß, genauso groß wie Decker, jedoch schmaler. Er hatte ebenfalls einen dunklen Teint, aber hellere Augen – bräunlich grün. Er war glatt rasiert und trug einen sportlichen Tweedmantel von Harris und eine graue Flanellhose, aber keinen Kittel. Entweder war er nicht verheiratet, oder er fand dieses Festtagsgewand zu traditionell. Er pfiff beim Gehen eine muntere Melodie vor sich hin, was ihm böse Blicke von Ezra eintrug. Vielleicht lag es nur an der modernen Kleidung, aber Decker fand in dem jungen Burschen mehr von sich als in den beiden älteren Brüdern.
Junger Bursche? Jonathan mußte in Rinas Alter sein, vielleicht sogar ein oder zwei Jahre älter. Das stimmte Decker ein wenig nachdenklich.
Doch dieses ganze Gedankenspiel hatte keinen tieferen Sinn. Sofern er nicht mal eine Bluttransfusion oder ein Nierentransplantat brauchte, war es völlig belanglos, was er mit diesen Typen gemein hatte. Aber er konnte einfach nicht damit aufhören. Er versuchte zwar, diskret zu sein, doch nur zu oft trafen sich seine Blicke mit einem von ihnen, was deutlich Verwirrung auslöste.
Seine verstohlenen Blicke schienen Ezra ähnlich zu nerven wie Jonathans Pfeiferei. Auf Shimon und Jonathan wirkte Decker offenbar auch ein wenig merkwürdig, aber sie fanden ihn gleichzeitig ganz amüsant.
Rina ging mit den Frauen hinter ihnen. Ihre Schwäger gingen mit den älteren Männern voraus. Die Kinder wuselten überall herum. Irgendwie war Decker bei seinen Halbbrüdern gelandet. Ob ihr das auffiel?
Wie könnte es ihr nicht auffallen? Er fragte sich, was sie wohl in diesem Augenblick empfand, ob ihr der gemeinsame Anblick ihrer Söhne unsäglichen Schmerz oder Freude bereitete. Plötzlich merkte Decker, wie Jonathan ihn angrinste.
»Wußten Sie eigentlich, Akiva, daß Rinas Telefon die ganze Zeit, wo sie hier war, praktisch ununterbrochen geklingelt hat …«
»Die Hälfte der Anrufe war von dir«, fiel ihm Shimon ins Wort.
»Ich hab als Freund angerufen«, sagte Jonathan.
»Ein sehr enger Freund«, entgegnete Shimon. Seine braunen Augen funkelten.
Jonathan sah Decker an. »Sie hat keinen anderen Mann auch nur eines Blickes gewürdigt.«
Ezra rückte seinen schwarzen Hut zurecht und sagte mit gerunzelter Stirn: »Redet man so an Jom Tow?«
»Ich wollte Akiva nur wissen lassen, daß Rina ihm treu war«, sagte Jonathan.
»Du brauchst dir
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