Tag der Buße
unter aufmunterndem Händedrücken, daß alles wieder gut würde. Doch niemand glaubte ein Wort von dem, was er sagte.
Als alle gegangen waren, setzte Decker sich an den Eßzimmertisch und versuchte, seinen Kopf von düsteren Gedanken zu befreien. Unglücklicherweise fielen ihm nur Tragödien ein. Die überwältigende Trauer auf den Gesichtern der Eltern, wenn er die schlimme Nachricht überbringen mußte. Ihm wurde ganz flau im Magen.
Auf dem Tisch stand immer noch reichlich zu essen. Doch der Salat war unter dem Dressing zusammengefallen, und das Roastbeef begann, an den Rändern einzutrocknen. Es war bereits vier Uhr durch, und Decker hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Er nahm ein Hühnerbein und biß hinein.
»Entschuldigung, aber ich muß was in den Magen kriegen«, sagte er.
Shimon reichte ihm einen sauberen Teller. »Aber natürlich. Sie müssen was essen. Kann ich Ihnen noch irgendwas holen?«
»Nein danke, das ist genau das Richtige«, sagte Decker.
»In zwanzig Minuten ist die Mincha«, sagte Ezra geistesabwesend.
Niemand erwiderte etwas.
»Tefillah!« sagte Ezra. »Ich muß jetzt beten.« Tränen traten ihm in die Augen. »Tefillah! Tzedekah! Teschuwah!« Er begrub seinen Kopf in den Händen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Es ist meine Schuld … Ich lerne nicht mehr mit ihm … Ich bin zu ungeduldig …«
»Ezra, hör bitte damit auf«, sagte Shimon. »Du bist ein guter Vater.«
Mit feuchten Augen sah Ezra Decker an. »Es tut mir leid.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte Decker. »Es ist hart. Aber wir haben noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Ezra, haben Sie Ihre übrigen Kinder ausdrücklich gefragt, ob sie wüßten, wo er sein könnte?«
»Das habe ich.«
»Und sie wissen nichts?«
Ezra schüttelte den Kopf.
»Ist Noam früher schon mal weggelaufen?«
»Nicht so«, sagte Ezra.
»Aber er ist schon mal weggelaufen?« fragte Decker.
»Nein! Er streunt ab und zu herum, aber er kommt immer wieder zurück. Und er würde bestimmt nicht an Rosch ha-Schana weglaufen. Da kann er nirgends hin.«
Zumindest nicht in Boro Park, dachte Decker. Dann fragte er Jonathan: »Wem gehört der Ford Matador draußen vor dem Haus?«
»Mir«, sagte Jonathan.
»Geben Sie mir die Schlüssel«, sagte Decker. »Mit dem Auto kann ich Gegenden absuchen, wo wir zu Fuß nicht hinkommen. Ich mach mich auf den Weg, sobald ich mit den Kindern gesprochen hab.«
Niemand sprach das Offensichtliche aus. Deckers Bereitschaft, an Rosch ha-Schana Auto zu fahren und damit den Feiertag zu entweihen, ließ erkennen, daß die Situation ernst war. Decker brach das Schweigen, indem er Ezra nach einem Foto von seinem Sohn fragte. Ezra sagte, er hätte keins dabei, aber seine Mutter hätte sicher irgendwo ein paar Fotografien neueren Datums. Er würde schon was finden.
Nachdem Ezra das Zimmer verlassen hatte, sagte Decker: »Das Beste, was man in einer solchen Situation tun kann, ist eine Befragung von Haus zu Haus. Sie kennen die meisten Ihrer Nachbarn, das ist ein großer Vorteil. Fragen Sie, ob jemand Noam heute gesehen hat, und wenn ja, wann. Fragen Sie die Jungen in seinem Alter und achten Sie darauf, ob einer von ihnen vielleicht nervös oder ängstlich wirkt …«
Decker hielt inne und betrachtete seine beiden Halbbrüder. Sie waren außer sich vor Sorge und zutiefst erschüttert. Und sie starrten ihn an, als ob er Unsinn redete.
»Vielleicht sollten wir die Polizei anrufen?« sagte Shimon.
Decker bemühte sich, ruhig zu bleiben, und erklärte, daß die Polizei, wenn sie in New York ähnlich funktionierte wie in Los Angeles, bei Kindern über zehn, elf Jahren zunächst nichts unternehmen würde. Man würde mindestens vierundzwanzig Stunden warten, bis man eine Vermißtenmeldung herausgab.
»Aber er ist doch noch ein Junge«, protestierte Shimon.
»Er ist vierzehn und wird daher eher als Ausreißer betrachtet als als Opfer einer Entführung …«
»Chas Wachalilah«, entfährt es Shimon. »Mein Gott, ich kann gar nicht glauben, daß das alles wirklich geschieht.«
Wie viele Male hatte Decker diese Worte schon gehört. Dieses Gefühl der Unwirklichkeit. Aber es war wirklich, und sie brauchten eine gute Strategie. Decker zwang sich, optimistisch zu klingen. »Vielleicht taucht er ja in einer Stunde wieder auf, oder heute abend …«
»Vielleicht aber auch nicht«, sagte Jonathan.
»Sag doch so was nicht!« schalt ihn Shimon.
»Jonathan hat recht«, sagte
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