Tag der Buße
kleines Kind?«
»Ich sag ja nicht, daß du auf ihn aufpassen sollst wie auf ein kleines Kind, aber du könntest zumindest die Augen offenhalten. Du weißt doch, wie Noam ist. Immer in seiner eigenen Welt versunken. Genau wie Yonasan …«
»Wenn du doch weißt, wie er ist«, fiel Ezra ihr ins Wort, »warum kannst du dann nicht die Augen offenhalten?«
»Er ist genau wie Yonasan«, wiederholte Breina.
»Hört auf zu streiten«, mischte Frieda Levine sich ein. »Ihr macht uns alle ganz nervös.«
Doch schon lange vor dem heutigen Ereignis hatte Frieda ein Gefühl der Angst beschlichen.
Das hier war etwas, das sich nicht von allein lösen würde. Das war Jad Elokim, die Hand Gottes, die sie bestrafte, die sie dafür verurteilte, daß sie nicht stark genug gewesen war. Er hatte zweiundvierzig Jahre verstreichen lassen, aber sie hatte gewußt, daß es irgendwann passieren würde. Und jetzt hatte er sich von ihren Söhnen den schwächsten ausgesucht und ihr verletzlichstes Enkelkind.
Ihr verlorener Sohn – war er als Teil von Gottes Rache gekommen? Oder war er aus einem anderen Grund geschickt worden?
Vielleicht wollte der Allmächtige in seiner unendlichen Weisheit sie auch nur auf die Probe stellen. Vielleicht konnte sie Erlösung finden, wenn sie sich als würdig erwies – würdig der Gnade Gottes und der Gnade Akivas.
Was auch immer von ihr erwartet wurde, was auch immer sie tun mußte, sie würde es tun.
Sie würde stark sein.
Zu ihrem Mann sagte Frieda: »Sprich den Kiddusch. Akiva und Yonasan werden ihren eigenen Kiddusch sprechen, wenn sie zurück sind.«
Alter Levine saß an einem der Klapptische. Vor ihm lag ein aufgeschlagener Talmudband. Er blickte auf, als er die Stimme seiner Frau hörte. Doch als sonst niemand Anstalten machte, sich zu setzen, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Talmud zu.
Ezra scharte seine anderen Kinder um sich und fragte: »Wer hat Noam zuletzt gesehen?«
Aaron, der Älteste, sagte: »Er ist mit uns zur Schul gegangen, Abba. Danach habe ich gedawwenet und nicht auf ihn geachtet.«
»Er ist vermutlich zu einem Freund gegangen, Ezra«, sagte Miriam. »Bei mir taucht er auch ständig unangemeldet auf.«
»Tatsächlich?« sagte Ezra. »Was will er denn?«
»Ich glaube, er will gar nichts, Ezra.«
»Was soll das dann?«
»Ich weiß es nicht. Ich geb ihm einfach eine Kleinigkeit zu essen.«
»Er kann doch wohl zum Essen nach Hause kommen«, sagte Breina.
»Das liegt sicher am Alter. Da ist es halt manchmal schöner, bei der Tante zu essen als zu Hause. Vielleicht ist er zu einem Freund gegangen, um da eine Kleinigkeit mitzuessen.«
»An Rosch ha-Schana?« fragte Breina.
»Vielleicht ist er zu deinem Bruder gegangen«, sagte Ezra. »Wenn er zu Miriam geht, geht er vielleicht auch noch zu anderen Verwandten?«
»Jetzt reicht’s!« sagte Frieda und forderte ihren Mann erneut auf, den Kiddusch zu sprechen.
»Es sitzt aber doch niemand«, sagte Alter.
»Alle hinsetzen«, sagte Shimmy.
Die nächsten Minuten war man damit beschäftigt, für alle einen Platz zu finden. Rina wies ihre Söhne an, sich zu ihren Cousins an den Tisch zu setzen. Außerdem wollte sie von ihnen wissen, ob sie Noam gesehen hätten. Beide schüttelten den Kopf.
»Ich hab ihn heute auch nicht in der Schul gesehen«, flüsterte Sammy seiner Mutter ins Ohr.
»Du hast ihn wahrscheinlich nur übersehen, Shmuel«, sagte Rina. »Aaron hat gesagt, er wäre mit ihnen zur Schul gegangen.«
»Er war nicht in der Schul«, beharrte Sammy.
»Wieso weißt du das so genau?« fragte Rina.
»Weil Noam sich immer, sobald er mich sieht, auf mich stürzt, um mich zu ärgern. Und heute hat er mich nicht geärgert.«
»Vielleicht hat er keine Lust mehr, dich zu ärgern«, sagte Rina.
»Das kann nicht sein. Gestern hat er sofort angefangen, als er mich sah. Er ist richtig gemein, Ima.«
Rina seufzte. Noam war wirklich ein schwieriger Junge. Und sie wußte auch, warum Sammy so böse auf ihn war. Noam hatte hinter Sammys Rücken obszöne Sachen über sie und Peter gesagt. Natürlich hatte Sammy das erfahren. Es war zu einer Prügelei gekommen, und Noam, der älter und größer war, hatte Sammy ein blaues Auge verpaßt. Rina war empört gewesen und hatte einen riesigen Stunk machen wollen. Doch Sammy hatte sie angefleht, Breina und Ezra nichts davon zu sagen. Sie hatte es dann schließlich auch gelassen, weil sie wußte, daß ihr Sohn sich für sie geprügelt hatte und sich durch ihr Einschreiten in seiner
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