Tag der Buße
Männlichkeit verletzt fühlen könnte. Der ganze Zwischenfall wurde schließlich ad acta gelegt, blieb aber nicht ohne psychologische Folgen. Rina verhielt sich seitdem Breina gegenüber ziemlich kühl, weil ihr klar war, daß Noams Gerede nicht aus dem Nichts kam.
»Hast du irgendeine Idee, wo er hingegangen sein könnte?« fragte Rina.
»Keine Ahnung, und es ist mir auch egal«, sagte Sammy. »Noam bringt sich ständig in Schwierigkeiten. Er ist ein Fall für den Psychiater.«
»Shmuli, sei doch nicht so hart.«
Sammy lächelte sie verschmitzt an. »Setzt Mrs. Levine uns Kinderessen vor, oder kriegen wir das gleiche wie ihr?«
Rina wollte ihm gerade eine Standpauke halten, doch er kam ihr zuvor. »Schon gut, Ima.« Er küßte ihr die Hand. »Setz dich hin.«
Rina hätte ihn am liebsten an sich gedrückt und hätte es auch getan, wenn sie allein gewesen wären. Aber leider waren ihre Jungen in dem Alter, wo ihnen ihre Umarmungen und Küsse peinlich waren. Also lächelte sie die beiden nur an. Dann suchte sie ihren Platz am Tisch. Man hatte sie zwischen ihre Schwägerinnen gesetzt.
Alter Levine sprach den üblichen Segensspruch über einem Becher Wein. Auf den Kiddusch folgte das rituelle Händewaschen, dann wurde das Brot gebrochen. Bei den vielen Leuten und nur einem Waschbecken dauerte die Zeremonie über zehn Minuten. Als dann schließlich das Essen aufgetragen werden sollte, sprangen sechs Frauen auf, um Frieda Levine zu helfen. Doch Frieda bat die Gäste, sich wieder zu setzen. Ihre Töchter und Schwiegertöchter würden ihr helfen, außerdem sei in der Küche ohnehin kein Platz für noch mehr Leute.
Esther tippte Rina sanft auf die Schulter und flüsterte: »Du siehst blaß aus.«
»Die Reise hierher war anstrengend«, sagte Rina. »Und dieser Zwischenfall jetzt nimmt einen auch mit.«
»Die arme Breina«, schaltete sich Rinas Schwägerin Shayna ein. »Noam macht ihr in letzter Zeit viel Sorgen. Er ist kein schlechter Junge, aber er hat keinen Verstand. Keinen Sechel.«
»Erinnerst du dich noch an diesen Streit, den er mit Sammy hatte?« fragte Esther.
»Ja«, sagte Rina, »Noam läßt sich leicht beeinflussen.«
»Wenn ihr mich fragt, ist er ein einsamer Junge«, sagte Esther. »Das hier hat bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. Warum sollte Ezra sonst Akiva bitten, nach ihm zu suchen?«
»Jonathan hat angeboten, nach ihm zu suchen«, sagte Rina. »Nicht Akiva. Der begleitet ihn nur. Akiva weiß noch nicht mal, wie der Junge aussieht.«
»Die arme Breina«, wiederholte Shayna. »Es ist nicht einfach, Jungen in diesem Alter zu erziehen.«
»Pscht, sie kommt«, sagte Rina.
Die Vorspeise wurde serviert. Rina war beim zweiten süßsauren Fleischklößchen, als es laut an der Tür klopfte. Shimon und Ezra sprangen gleichzeitig auf. Ezra war als erster an der Tür.
Rina sah die Männer forschend an, als sie ins Zimmer kamen. Jonathan wirkte besorgt. Peter hingegen war ruhig und ließ keinerlei Emotionen erkennen. Sein Blick war undurchdringlich, sein typisches professionelles Verhalten. Für einen Augenblick tauchten die jungen, rosigen Gesichter, wie sie auf Milchtüten zu sehen waren, vor ihren Augen auf. Doch sie vertrieb die Bilder sofort wieder, es war zu grausig, jetzt an so etwas zu denken.
»Ihr habt ihn nicht gefunden«, sagte Ezra.
Die Frauen kamen aus der Küche. Breinas Lippen fingen an zu zittern. Frieda taumelte zurück. Esther stand auf und bot Frieda ihren Stuhl an. Ezra forderte alle auf, sich zu beruhigen, doch er selbst war alles andere als ruhig.
»Wahrscheinlich ist er bei einem Freund«, sagte Jonathan. »Ich kenne nur nicht alle seine Freunde …«
»Er würde nirgendwo hingehen, ohne mich zu fragen«, sagte Breina mit schriller Stimme. »Und es würde ihn auch niemand aufnehmen, ohne mir Bescheid zu sagen. Jedenfalls nicht an Rosch ha-Schana.«
»Habt ihr bei uns nachgesehen?« fragte Ezra. »Vielleicht ist er nach Hause gegangen.«
»Zweimal«, sagte Jonathan. »Wenn er zu Hause ist, geht er nicht an die Tür.«
»Ich geh nachsehen«, sagte Ezra zu Breina. »Ich frag bei seinen Freunden, bei deinem Bruder …«
»Bei Shlomi bin ich schon gewesen, da ist er nicht«, sagte Jonathan und fluchte leise vor sich hin.
»Soll ich mitkommen?« schlug Decker Ezra vor.
»Nein«, sagte Ezra unwirsch. Dann schlang er die Arme um sich und atmete ganz langsam aus. »Nein, das ist nicht nötig.«
»Laß Akiva mitkommen, Ez«, sagte Jonathan.
»Warum? Meinst du, ich brauche einen
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