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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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werden normalerweise nicht entführt. Sie sind zu stark und würden sich zu heftig wehren. Kinderschänder sind opportunistische Schweine. Sie schnappen sich die, mit denen sie die wenigste Mühe haben. Das ließ hoffen, weil man Ausreißer normalerweise leichter fand als entführte Kinder. Dazu kam noch das arrogante Grinsen des Jungen. Er schien ein Überlebenskünstler zu sein.
    Aber er war trotzdem noch ein Kind – und zwar ein sehr behütetes. Auf den Straßen von New York konnte ein spontanes Abenteuer schnell zu einem Horrortrip werden.
    Decker steckte das Bild ein. Dann sagte er zu Ezra: »Ich möchte erst mal mit Ihren Kindern reden.«
    »Wozu?« sagte Ezra. »Ich hab Ihnen doch gesagt, sie wissen nichts.«
    »Da haben Sie sicher recht. Aber unsereins kriegt halt in der Ausbildung beigebracht …«
    »Wenn sie sagen, sie wissen nichts, dann wissen sie auch nichts.«
    »Ezra«, sagte Shimon, »laß ihn mit den Kindern reden. Was kann das denn schon schaden?«
    »Und ich würde mir auch gerne Noams Zimmer ansehen«, sagte Decker.
    »Sein Zimmer?« sagte Ezra. Seine Stimme war voller Mißtrauen. »Wozu? Was hoffen Sie denn da zu finden?«
    »Ezra«, sagte Shimon, »laß es ihn doch einfach machen.« Zu Decker gewandt sagte er: »Aaron, mein ältester Neffe, hat einen Schlüssel. Er bringt Sie zum Haus.«
    »Ich kann ihn selber hinbringen«, protestierte Ezra.
    Jonathan legte einen Arm um seinen Bruder. »Laß uns in die Schul gehen. Wir begleiten dich. Nachher können wir noch ein bißchen zusammen lernen.«
    »Mit dir lernen?« sagte Ezra.
    »Mit mir lernen«, sagte Jonathan. »Was lernst du denn gerade? Den Massechet Sukkot? Diesen Massechet kann ich sehr gut.«
    »Wir werden alle zusammen lernen«, sagte Shimon. »Komm, Ezra.« Er legte Ezra einen Arm um die Taille. »Komm mit.«
    Decker sah zu, wie Shimon und Jonathan Ezra behutsam nach draußen begleiteten.
    Drei vom selben Blut.
    Drei Brüder.

9
    Die Kinder hatten sich nach Geschlechtern getrennt – in einem Zimmer die Jungen, im anderen die Mädchen. Elf Jungen und acht Mädchen – die Levines waren eine fruchtbare Sippe.
    Decker fing mit den Mädchen an. Sie waren im Alter zwischen drei und vierzehn und saßen flüsternd und kichernd in Grüppchen zusammen. Da die Mädchen, die noch nicht zur Schule gingen, äußerst scheu waren und teilweise kaum Englisch konnten, beschloß Decker, sich auf die älteren zu konzentrieren – drei Cousinen im Alter von sieben, acht und vierzehn sowie Noams elfjährige Schwester Tamar. Sie hatten immer noch ihre Festtagskleider an – reichlich Spitze und Samt – und trugen viel Schmuck – Perlenohrringe, goldene Halsketten, schmale Armbänder und Uhren. Shimons Tochter, die älteste von ihnen, hatte eine Perlenkette um. Außerdem trug sie Schuhe mit hohen Absätzen und einen Hauch von Lippenstift.
    Sie wußten, was passiert war – daß ihr Cousin beziehungsweise Bruder vermißt wurde. Und daß sie Decker helfen sollten, ihn zu finden. Sie wirkten aufgeregt und nervös, aber nicht übertrieben ängstlich. Es war fast so, als sähen sie Noams Verschwinden wie eine schwierige Mathematikaufgabe, die gelöst werden mußte.
    Je mehr sie erzählten, desto mehr wurde Decker klar, daß Noam für sie ein Rätsel war – ein Einzelgänger, ein seltsamer Junge mit unheimlichen Augen. Selbst Noams Schwester hatte ein wenig Angst vor ihm. Das war sehr merkwürdig. Es kam häufig vor, daß Mädchen ihre Brüder haßten oder eifersüchtig auf sie waren. Aber Angst war eigentlich selten.
    Es war ganz offensichtlich, daß die Mädchen immer einen Bogen um Noam gemacht hatten. Das hinderte sie jedoch nicht daran, wilde Vermutungen anzustellen, wo er denn sein könnte. Die meisten Vorschläge waren jedoch exotisch und völlig abwegig – wie zum Beispiel Noam sei weggelaufen, um sich einem Zirkus anzuschließen.
    Solche Spekulationen mochten zwar einiges über die Mädchen selbst aussagen, aber Decker fürchtete, daß ihm das bei der Suche nach dem Jungen nicht weiterhelfen würde. Er dankte den jungen Damen, daß sie sich Zeit genommen hatten.
    Die Jungen hockten in einem Gästezimmer, in dem es stickig warm war und stark nach Schweiß roch. Die kleineren Jungen rannten herum. Ständig stieß jemand gegen eines der beiden Betten oder gegen die Wände. Die fünf älteren saßen mit einem Talmudband in einer Ecke und lernten. Alle trugen schwarze Hüte und hatten die Haare militärisch kurz geschnitten, was Deckers Aufmerksamkeit auf

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