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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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Decker. »Es ist durchaus möglich, daß Noam heute abend nicht auftaucht.« Oder nie mehr. Aber er wußte, daß dieses negative Denken eine Berufskrankheit war, etwas, womit er sich zum Handeln antrieb. »Zeit spielt eine wichtige Rolle. Mir ist klar, daß Sie beide so etwas noch nie gemacht haben, aber Sie können bei Ihren Nachbarn viel mehr erreichen als ich.«
    »Wir gehen also von Tür zu Tür«, sagte Jonathan, »und fragen, ob jemand Noam gesehen hat. Das ist alles?«
    »Halten Sie die Augen offen«, sagte Decker. »Wenn jemand plötzlich rot wird, die Hand vors Gesicht hält, anfängt, zu stottern oder zu zittern, aussieht, als ob er etwas zu verbergen hätte – merken Sie es sich und erzählen’s mir dann später. Ein paar Jungen kamen mir ein bißchen verdächtig vor, als ich mit Ezra da war. Ich werde noch mal hingehen und sie genauer befragen. Aber zuerst möchte ich die Gegend mit dem Auto durchkämmen.«
    »Soll ich mitkommen?« fragte Jonathan. »Ich könnte fahren, dann können Sie sich besser umschauen.«
    »Sie müssen die Sache schon für sehr ernst halten, wenn Sie bereit sind, Jom Tow zu entweihen«, sagte Shimon zu Decker.
    Decker gab darauf keine Antwort, sondern erklärte statt dessen Jonathan, er könne sich allein umschauen. Dann wies er die beiden Brüder an, zusammen zu gehen. Einer sollte das Reden übernehmen, der andere auf die Gesichter achten.
    »Und achten Sie auch auf die Erwachsenen«, sagte Decker. »Ich sage das zwar ungern, aber man kann ein Sexualdelikt nicht ausschließen …«
    »Hier schon«, sagte Shimon.
    »So was kommt überall vor«, sagte Decker.
    »Nein, Sie kennen Boro Park eben nicht«, beharrte Shimon.
    Decker legte Shimon eine Hand auf die Schulter. »Okay. Ganz wie Sie meinen. Und ich hoffe, daß Sie recht haben. Aber tun Sie mir trotzdem den Gefallen und achten Sie auch auf die Erwachsenen.«
    »Ich halte die Augen offen«, sagte Jonathan.
    »Am besten gehen Sie folgendermaßen vor. Shimon, Sie übernehmen das Reden – Sie sind mehr in die Gemeinde integriert. Jonathan, Sie übernehmen das Beobachten.« Er hielt inne, um Luft zu holen. »Ich mache mir außerdem große Sorgen um Ihre Mutter, Ihren Bruder und Ihre Schwägerin. Shimon, bitten Sie Ihre Frau und Ihre Schwestern, sich um Breina zu kümmern. Ezra schicken Sie am besten in die Schul – das lenkt ihn ein bißchen ab und gibt ihm das Gefühl, etwas zu tun …«
    »Tefillah ist etwas tun«, fiel Shimon ihm ins Wort. »Zu Haschem zu beten ist das einzig Richtige, was er jetzt tun kann.«
    Einen Augenblick sagte niemand etwas.
    »Du weißt doch, wie er das gemeint hat, Shimmy«, sagte Jonathan schließlich.
    Shimon atmete tief aus. »Ja, ich weiß, ich weiß … es tut mir leid. Reden Sie weiter.«
    Decker legte ihm einen Arm um die Schulter. »Das war alles. Hey, solche Sachen passieren andauernd. Ständig bleiben Kinder einen ganzen Tag lang weg und treiben ihre Eltern in den Wahnsinn. Dann schleichen sie sich um zwei Uhr morgens ins Haus und wundern sich, warum sich alle so aufregen. Ihr Bruder und Ihre Schwägerin brauchen jegliche Unterstützung, bis die Sache geklärt ist.«
    »Werden solche Fälle denn geklärt?« fragte Jonathan.
    »Andauernd«, antwortete Decker.
    »Im jirtzah Haschem«, sagte Shimon .
    »So Gott will«, wiederholte Jonathan.
    Ezra kam mit rot geschwollenen Augen zurück, ein Foto in der Hand, das er Decker widerwillig gab, als ob er mit diesem Akt den Verlust seines Sohnes besiegeln würde. Wie Decker es immer mit Fotos von vermißten Personen tat, betrachtete er das Bild, als ob es ein Text wäre.
    Noam Levine sah sehr reif für sein Alter aus und hatte ein überhebliches Lächeln aufgesetzt. Sein Gesicht war schmal, er hatte ein kantiges Kinn mit flaumigen Barthaaren, ausgeprägte Wangenknochen und einen mürrischen Mund mit vollen Lippen. Von seinem Vater hatte er den dunklen Teint und von seiner Mutter die hellblauen Augen. Irgendwas war merkwürdig an seinem Gesichtsausdruck. Decker starrte so lange auf das Foto, bis er wußte, was es war. Noams mürrischer Mund lächelte, doch seine Augen waren traurig.
    »Wie groß ist er?« fragte Decker Ezra.
    »Ziemlich groß für sein Alter. Einsfünfundsechzig bis einssiebzig. Das ist auch ein Problem. Er meint immer, er wüßte mehr als alle anderen …« Ezra unterbrach sich. »Was red ich da nur?«
    Decker wog die Möglichkeiten ab. Er neigte zu der Auffassung, daß Noam aus freien Stücken abgehauen war. Große, kräftige jungen

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