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Tag der Buße

Titel: Tag der Buße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Faye Kellerman
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ihre Ohren lenkte. Bei einigen waren sie groß, bei anderen flach, einige hatten ausgeprägte Ohrläppchen, bei anderen standen die Ohren ab wie die von Alfred E. Newman, der Comicfigur. Als Decker näherkam, legte einer der älteren Jungen den Talmud hin und blickte auf. Er hatte blaue Augen und zarte Haut, auch schon mit einem Hauch von Bartflaum. Er sah Noam Levine im Gesicht sehr ähnlich, hatte aber weichere und rundere Züge. Er mußte etwa fünfzehn sein.
    »Hi«, sagte Decker. »Aaron Levine?«
    Der Junge nickte.
    »Dein Onkel Jonathan hat gesagt, du hättest einen Schlüssel von eurem Haus«, sagte Decker. »Ich würde mir gern Noams Zimmer ansehen.«
    Aaron nickte wieder.
    »Hat er ein eigenes Zimmer?« fragte Decker.
    »Er teilt es mit mir und Boruch.«
    Aarons Blick fiel auf seinen jüngeren Bruder. Boruch war ungefähr zwölf. Es war eine eindeutige Familienähnlichkeit da – glatte Haut, blaue Augen, ausgeprägtes Kinn und dunkle Haare. Alle sahen Breina ähnlich. Nur war Noam – zumindest dem Foto nach zu urteilen – etwas stämmiger gebaut.
    Decker bat die Brüder, einen Augenblick zu warten, und befragte zuerst die Cousins. Die Jungen waren höflich und sehr hilfsbereit. Der älteste von ihnen war Shimons Sohn. Er war in Aarons Alter – fast sechzehn – und hatte nicht viel mit Noam zu tun. Auch die beiden anderen gingen ihm weitgehend aus dem Weg. Zwar erklärten alle einstimmig, daß ihr Cousin häufiger mal allein durch die Gegend streunen würde, doch sein Verschwinden an Rosch ha-Schana schien sie wirklich zu überraschen. Nach weiteren fünf Minuten hatte Decker den Eindruck, daß sie wirklich nichts wußten, und ließ sie in Ruhe.
    Dann wandte er sich Noams Brüdern zu. Aaron und Boruch wirkten beide nervös.
    »Habt ihr irgendeine Ahnung, wo euer Bruder sein könnte?« fragte Decker.
    Die Jungen zuckten unwissend die Achseln.
    »Ihr müßt aber doch darüber nachgedacht haben«, bohrte Decker weiter.
    »Noam hält sich für sich. Er ist …« Aaron wand sich. »Laschon Hara.«
    Laschon Hara – Klatsch. Das galt zwar in jeder Gesellschaft als unfein, doch nach jüdischem Gesetz war es eine schwere Sünde. »Aaron«, sagte Decker, »wenn Noam verschwunden ist, muß ich alles über ihn wissen. Auch die Dinge, die ihn in einem nicht so guten Licht erscheinen lassen.«
    »Er tut nichts Schlimmes.« Aarons Stimme versagte, und eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht. »Es ist nur … Noam hat Probleme, sich einzufügen. Da kann er manchmal ziemlich unausstehlich sein. Entweder ist er allein unterwegs oder er ärgert mich oder meine Freunde.« Der Junge rückte seinen Hut gerade. »Dann … urplötzlich ist er ungefähr eine Woche lang der netteste Mensch auf der Welt. Nimmt einem alle Aufgaben im Haus ab, faltet einem die Sachen zusammen, ist einfach nur … nett. Aber das hält nie lange an. Ich werde nicht schlau aus ihm. Ehrlich gesagt, ich hab’s auch aufgegeben.«
    Boruch nickte zustimmend.
    »Das siehst du auch so ähnlich?« fragte Decker.
    »Ja, Sir«, sagte Boruch. »Noam erinnert sich zwar immer an Geburtstage, eher als Abba und Ima. Aber die meiste Zeit übersieht er mich entweder oder er verprügelt mich.« Er hielt deutlich mitgenommen inne. »Steckt er in Schwierigkeiten?«
    »Ich weiß es nicht, Boruch.« Decker lächelte ihn aufmunternd an. Das war das einzige, was er für den Jungen tun konnte. »Hat Noam irgendwelche Hobbys – sammelt er Baseballkarten oder Briefmarken? Steht er auf Autos, vielleicht auf aufgemotzte Schlitten?«
    Die Jungen schüttelten die Köpfe.
    »Fährt er viel Fahrrad, macht er Sport, fährt er Skateboard …«
    Die Jungen fingen an zu lachen.
    »Skateboardfahren ist hier wohl nicht so angesagt?«
    »Nein«, sagten sie einstimmig.
    »Macht er viel Sport?«
    »Nicht daß ich wüßte«, sagte Aaron.
    »Wenn er keinen Sport treibt, nicht viel lernt und auch keine Hobbys hat, was macht er denn dann den ganzen Tag?«
    »Er verbringt viel Zeit am Computer«, sagte Boruch.
    »Spiele?« fragte Decker.
    »Wir haben keine Computerspiele«, sagte Boruch. »Wir brauchen ihn für die Schule, um Aufsätze zu schreiben. Und wir haben ein Gemara- Programm, das uns abfragt. Das ist wirklich gut.«
    »Benutzt Noam dieses Programm?« fragte Decker.
    Beide schüttelten die Köpfe, ließen aber sonst keine Reaktion erkennen.
    »Könnte man auf diesem Computer Spiele machen, wenn man wollte?« fragte Decker.
    »Nein«, sagte Aaron. »Er hat keine Videokarte. Es sei denn,

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