Tag der Vergeltung
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Sarah Glaser presste ihr Fernglas an die Augen und verfolgte den jungen Mann, der mit seinem Hund die Straße entlanglief. Erst vor einer Woche war er als dritter Mitbewohner in die vierte Etage der Louis-Marshall-Straße 56 eingezogen, und seitdem ging er jeden Abend um Viertel vor eins mit dem Hund Gassi. Er lief die Strecke zwischen De Haas und Brandeis auf und ab, bis der Hund seinem Geschäft nachging, und sammelte anschließend den Kot mit einer Tüte auf. Gestern war ihr jedoch aufgefallen, dass er den Hundehaufen entgegen seiner Gewohnheit liegen gelassen hatte. Sie hatte sein Gesicht näher herangeholt, um zu inspizieren, ob er verblüfft war, weil er keine Tüte dabeihatte, wütend, weil er sie vergessen hatte, oder ob er zumindest ein wenig verlegen war, aber das Gesicht des jungen Mannes zeigte keine Regung. Er war weitergegangen, als wäre nichts geschehen. Die Tatsache, dass jetzt ein Scheißhaufen auf dem Bürgersteig lag, schien ihn nicht zu stören. Obwohl sie der Ansicht war, dass ein solches Betragen an Barbarei grenze und es beweise, dass die junge Generation dieses Staates in gehörigem Maße verlottere, hatte sie den Entschluss gefasst, vorerst nichts zu unternehmen. Jedem stand es zu, dass ihm ein Mal verziehen wurde. Daher war sie schon äußerst gespannt, wie er sich in dieser Nacht verhalten würde. Sollte er sich erneut vorm Saubermachen drücken, würde sie nicht länger schweigen und schon morgen früh eine heftige Beschwerde an die Stadtverwaltung aufsetzen – anonym natürlich.
Der Hund verharrte, sie nahm ihn in den Fokus. Sie hatte das Fernglas erst vor einem Monat übers Internet gekauft. Mehr als zehntausend Schekel hatte es sie gekostet. »Die neueste Technologie« hatte die Internetseite des Herstellers ihr versichert. Da sie die Straße selten aus den Augen ließ, um nicht zu verpassen, was im Viertel vor sich ging, hatte sie nicht lange gefackelt. Die Anschaffung hatte sie für sich behalten und der Lieferung jeden Tag entgegengefiebert. Einige Tage später war es eingetroffen – brandneu war es gewesen, es funkelte silbern, hatte hochentwickelte Linsen und eine spezielle Taste. Wenn man die nachts betätigte, hatte man fast so gute Sicht wie bei Tageslicht.
Vor zwei Tagen hatte ihr ältester Enkelsohn sie besucht und sich erkundigt, ob sie den Computer benutze, den sie zum Geburtstag bekommen hatte, und ob sie sich noch an seine kleine Einführung ins Internet erinnere. Beinahe hätte sie ihm von dem netten Geschenk erzählt, das sie sich gemacht hatte, und was man alles damit anstellen konnte. Doch im letzten Moment hatte sie sich auf die Zunge gebissen. Ihre kleine Entgleisung würde in der Familie sofort für Gerede sorgen, und sie müsste sich rechtfertigen, warum es mit 82 ausgerechnet ein Fernglas sein musste, und noch dazu ein derart teures. Sie und Sefi, sein Andenken soll gesegnet sein, hatten nicht gerade im Überfluss gelebt und immerzu Geld »für die Kinder« zurückgelegt. Auf diese Weise Geld aus dem Fenster zu werfen riefe bei ihren Kindern bestimmt Stirnrunzeln hervor, und die beiden Schwiegertöchter würden hinter ihrem Rücken tuscheln. Also kein Wort. Sie erfuhren besser nichts davon. Stand es ihr nicht zu, sich ab und an etwas zu gönnen? Und in ihrem Alter war es ihr gutes Recht, Geheimnisse zu haben.
Der junge Mann aus der vierten Etage in der Louis-Marshall 56 bückte sich und sammelte den Hundekot mit einer Tüte auf. Bei der gestrigen Sache schien es sich um ein einmaliges Vorkommnis zu handeln. Wer weiß. Auf jeden Fall würde sie ihn im Auge behalten. Solche Sachen musste man kontrollieren.
Sie legte das Fernglas in den Schoß und musste plötzlich gähnen. Ein wenig enttäuscht war sie schon, dass er den Hundekot aufgesammelt hatte, das musste sie ehrlich zugeben. Ihre Sätze an die Stadtverwaltung – über die junge Generation, die sich für nichts schämte und der es an Rücksichtnahme und Manieren mangelte – hatte sie in Gedanken schon ausformuliert. Früher wären solche Dinge nicht vorgekommen. Die Leute kannten sich untereinander. Ein solches Verhalten hätte man sich nicht erlaubt. Das Viertel war für die Hafenarbeiter von Tel Aviv, allesamt Sozialdemokraten, gebaut worden. Man hatte die Wohnungen in den vierstöckigen Häusern, die aufgrund ihrer ungewöhnlichen Länge auch Waggons genannt wurden, an sie verlost. Die Leute waren mit dem Herzen dabei gewesen. Sie hatten weder Geld noch Mühe gescheut, um die Nachbarschaft zu
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