Tag der Vergeltung
für den gehobenen Dienst und wurde abgelehnt. Er gab auch dann nicht auf, als alle anderen ihn schon aufgegeben hatten. Und schließlich, als er schon Polizeihauptmeister war, bekam er seine Zulassung für den Aufstiegslehrgang – und ging zur Kriminalpolizei.
Während seiner langen Laufbahn hatte er so ziemlich alles gesehen: Mord, Vergewaltigung, Gewalt in der Familie, Kindesmisshandlung. Fast alle Paragrafen des Strafrechts waren über seinen Schreibtisch gegangen. Mit den Jahren hatte ihn diese Arbeit, die ihn Tag für Tag mit Gräueltaten und menschlichen Abgründen konfrontierte, abgestumpft. Dennoch gab es Fälle, die die Mauer durchbrachen, mit der er sich umgeben hatte, um den Anforderungen seines Jobs standzuhalten. Es waren Fälle, die ihm an die Nieren gingen und sich in seine Seele gruben. Der Anblick von Adi Regev – einer jungen Frau, fast noch Kind, die über Nacht ihrer Lebensfreude beraubt worden war – hatte ihn ordentlich mitgenommen. Seine eigene Tochter war nur anderthalb Jahre jünger als sie. Adi schien das komplette Gegenteil seiner starken, selbstständigen, ehrgeizigen Tochter zu sein, dennoch musste er sich eingestehen, dass sie genauso Opfer einer derart grausamen Brutalität hätte werden können.
Adi Regev war fast zweiundsiebzig Stunden nach der Vergewaltigung ins Krankenhaus gekommen. Wenn so viel Zeit verstrichen war, das wusste er, bestand kaum eine Chance, an ihrem Körper DNA-Spuren des Täters zu finden, zumal sie sich von Kopf bis Fuß äußerst gründlich gewaschen hatte.
Dem Tatort hatte dieser Zeitraum nichts anhaben können, da er abseitig lag, doch Aufschluss gab er wiederum auch nicht. Sie fanden keine Blutspuren vom Täter, er hatte von der kurzen Auseinandersetzung mit Adi offenbar keinerlei Verletzung davongetragen. Kein Sperma. Kein Messer. Keine Fingerabdrücke. Der einzige Beweis, den sie fanden, waren partielle Fußabdrücke im Sandboden: Turnschuhe in Größe dreiundvierzig der Marke Nike.
Seine Ermittler und er hatten im letzten Monat alle Hebel in Bewegung gesetzt. Zunächst hatten seine Leute Zeugen gesucht – waren von Wohnung zu Wohnung, von Nachbar zu Nachbar gegangen. Keiner hatte etwas gesehen, keiner hatte etwas gehört. Alle hatten entweder geschlafen oder ferngesehen. Und sich in ihren vier Wänden verbarrikadiert.
Obwohl Adi ausgesagt hatte, dass ihr der Täter unbekannt gewesen sei, hatten sie sämtliche Ex-Freunde vernommen und jeden, mit dem sie mal ausgegangen war. Wie sich herausstellte, war dieses Mädchen gut unterwegs. Doch die Befragungen führten von einer Sackgasse in die nächste. Sie hatten ihr Fotos von Vergewaltigern und Sexualverbrechern vorgelegt, die der Polizei bekannt waren. Vielleicht würden sie dort einen Treffer landen – auch das nicht.
Eli Nachum rieb sich müde die Augen. Er hatte bei seiner Arbeit große Erfolge erzielt, aber auch gewaltige Niederlagen einstecken müssen. Letzten Endes, ging es ihm durch den Kopf, waren es die Niederlagen, die einem im Nacken saßen. Selbst nach vielen Jahren konnte er jede einzelne benennen. Da brauchte ihm keiner auf die Sprünge helfen. Schon gar nicht so ein Klatschreporter wie dieser Amit Giladi. Über das, was hinter Eli Nachums Rücken geredet wurde, war er im Bilde. Er sei zu alt, nicht effektiv, grübele über jeden Fall zu lange, brauche zu viel Zeit, um ihn zu lösen, falls er überhaupt dazu imstande sei.
Hatten Kriminalbeamte früher verzwickte Fälle gelöst, wurden sie mit Ruhm überschüttet. Heute drehte sich alles um Tabellen, Statistiken und Berichte zur Effektivität. Längst überwachte und steuerte diese verfluchte Computerstatistik ihre Arbeitsweise. Kriminalbeamte wurden ausschließlich an ihrem Arbeitstempo gemessen, als wären sie Fließbandarbeiter in einer Fabrik. Die Dehnübungen, die seine Kollegen veranstalteten, um in der statistischen Bilanz besser abzuschneiden, waren ihm nicht entgangen. Sie wussten es zu arrangieren, dass die einfachen Fälle wie von allein den Weg zu ihrem Schreibtisch einschlugen. Sie legten Fälle en gros zu den Akten, indem sie behaupteten, es gebe keine Beweise, die Verdächtigen seien unschuldig, oder sie redeten Leuten zu, ihre Anzeige zurückzuziehen. Er könnte es genauso machen. Er würde Beifall ernten, die Vorgesetzten würden ihm anerkennend auf die Schulter klopfen, und er könnte seinen Tabellenplatz verbessern. Höchstwahrscheinlich würde er sogar befördert. Doch dafür war er zu alt und wahrscheinlich hatte
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