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Tag der Vergeltung

Tag der Vergeltung

Titel: Tag der Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liad Shoham
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nicht mehr ausgegangen. Ließ selbst die Dinge sein, die sie am liebsten tat. Letzten Samstag hatte sie einen Versuch gewagt, sie hatte sich das Fahrrad geschnappt und war am Yarkon entlang zum Strand gefahren. Sie liebte das Meer. Doch der Anblick der vielen Männer, die mit freiem Oberkörper auf der Promenade joggten und dabei ins Schwitzen kamen, machte sie krank, und sie war wieder umgekehrt.
    »Adi, Adinka, ich bin’s, Papa«, vernahm sie ihren Vater durch die Tür. So hatte er auch an jenem Samstagabend, zwei Tage nach der Vergewaltigung, vor ihrer Tür gestanden und sie gerufen. Nur weil er nicht nachgelassen hatte, war sie ins Krankenhaus gefahren und hatte Anzeige erstattet. Die Eltern hatten sie die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag bearbeitet, bis sie am Abend schließlich klein beigegeben hatte.
    »Ich muss mit dir reden«, sagte er und preschte herein, als sie ihm die Tür öffnete. Die Liebe und Fürsorglichkeit ihrer Eltern waren beklemmend. Beide – hauptsächlich aber der Vater – ließen ihr keine Ruhe. Stündlich riefen sie an, um sich nach ihr zu erkundigen. »Wie geht es dir?«, »Ist alles in Ordnung?«, »Konntest du schlafen?«, »Hast du gegessen?« Die Eltern löcherten sie mit Fragen. Es ging ihr überhaupt nicht gut, sie nahm wenig zu sich, lag nächtelang wach, antwortete aber mit »ja«, und »ja, ja«, um ihnen nicht noch mehr Sorgen zu machen und weil sie hoffte, sie würden sich etwas weniger um sie kümmern.
    »Ich wollte mich gerade ein bisschen hinlegen …«, log sie, sicher würde er den Hinweis verstehen und wieder gehen. Allein zu sein tat ihr gut. Es war Freitag, sie würde ohnehin in einigen Stunden zum Abendessen zu ihnen fahren. Seit dem Vorfall galt ihre Anwesenheit bei diesen Gelegenheiten als heilig. Alle saßen da und glotzten sie an, verfolgten jede ihrer Bewegungen. Sobald sie etwas sagte, verfielen alle augenblicklich in Schweigen.
    »Einen Moment nur, ich will dir etwas zeigen«, sagte er und führte sie ins Wohnzimmer. Er war aufgeregt, hatte rote Wangen und wirkte beinahe fröhlich.
    Sie setzte sich ihm gegenüber, hörte mit halbem Ohr zu, während er drauflosredete, wie es seine Art war, er gestikulierte mit den Händen, seine Stimme donnerte. Erneut sagte er ihr, wie sehr er und Mutter sie liebten, wie wichtig sie ihnen sei. Unzählige Male hatte sie seit dem Vorfall diese Dinge von ihnen gehört, sie hatte die Nase gestrichen voll. Sie konnte es kaum erwarten, dass er zum Ende kam, dann könnte sie endlich weiterspielen. Mehrmals hatte sie versucht, ihnen die Grenze aufzuzeigen. Einmal hatte sie ihre Mutter wütend angefahren. Doch sie ließen sich nicht beirren. Wollten sich nicht damit abfinden.
    Mit einem Mal fiel ihr auf, dass er nicht mehr redete. Sie lächelte ihn an, rechnete damit, dass er aufstand. Doch er blieb sitzen, und dann reichte er ihr aus heiterem Himmel mit leicht zitternder Hand eine Fotokamera.
    Verblüfft blickte sie auf die Kamera in ihrer Hand. Auf dem Display sah sie einen Mann, der einen Zebrastreifen überquerte.
    »Das ist er«, sagte ihr Vater und schaute ihr in die Augen.
    Sie hatte Kopfschmerzen. Wovon redete er?
    »Das ist der Mann, den ich letzte Nacht hier gesehen habe. Er ist es, der …«, sagte er und verstummte.
    »Was soll das heißen, in der Nacht?«, fragte sie. Das Foto, das er ihr gerade präsentierte, war bei Tageslicht aufgenommen worden.
    »Das hab ich dir doch gerade erzählt. Am Morgen bin ich noch einmal dorthin zurückgefahren. Ich habe gewartet, bis er aus seiner Wohnung kam, und habe ihn fotografiert, um ihn dir zu zeigen. Adinka, schau ihn dir an und sag mir, dass er der Mann ist, und ich gehe sofort damit zur Polizei …«
    Auf einmal wurde ihr klar, wovon er sprach. Das war nicht einfach nur ein Foto. Der Mann auf dem Foto war der Täter. Sie hatten ihn gefunden.
    Schnell legte sie die Kamera auf den Tisch und schob sie von sich. Nein, ihn sich genauer ansehen und sich daran erinnern, das wollte sie nicht. Nur vergessen.
    Der Vater beugte sich vor, nahm die Kamera und drückte sie ihr erneut in die Hand.
    »Ich weiß, dass du Angst hast, dass es schwer für dich ist. Du musst nur einmal kurz auf sein Gesicht schauen, damit ich zur Polizei gehen kann … Er ist es, ich weiß es. Du musst es nur bestätigen …«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte diese widerliche Bestie nicht noch einmal sehen.
    Der Vater stand auf und setzte sich neben sie.
    »Hör mal, Adinka, ein Blick und das alles hat

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