Tag des Opritschniks, Der
Danilowitsch!«
Ich schlage die Augen auf. Der Schein der Nachtlampe fällt auf das verheulte Gesicht meiner Anastassija. In der Hand hält sie ein Salmiakfläschchen. Schiebt es mir unter die Nase. Ich stoße es weg, verziehe das Gesicht, muss niesen. »He, was soll das …«
Sie schaut mich groß an.
»Warum tut Ihr Euch bloß so was an? Warum achtet Ihr nicht auf Eure Gesundheit?«
Ich rege die Glieder, doch mich aufzurichten fehlt die Kraft.
Eine dunkle Erinnerung befällt mich: Hat das Mädel mir nicht irgendwas eingebrockt? Mir fällt nicht ein, was … Ich habe Durst.
»Gib zu trinken!«
Sie bringt eine Kelle hellen Kwass. Die trinke ich leer. Sinke erschöpft zurück in die Kissen.
Jetzt erst mal rülpsen, das ist das Wichtigste.
Ich tue es. Gleich ist mir leichter.
»Wie spät ist es?«
»Halb fünf.«
»In der Früh?«
»In der Früh, Andrej Danilowitsch.«
»Ich hab also noch gar nicht geschlafen?«
»Man hat Euch bewusstlos gebracht.«
»Wo ist Fedka?«
»Hier bin ich, Andrej Danilowitsch.«
Fedkas mürrisches Gesicht taucht neben der Bettkante auf.
»Hat wer angerufen?«
»Nein, niemand.«
»Was gibt’s Neues im Haus?«
»Die Amme hat sich am Weißkäse verdorben, hat Galle gespuckt. Tanka möchte am Mittwoch freihaben, dass sie zur Taufe zu ihrer Familie kann. Im Badezimmer tropft die Nadeldusche wieder, ich hab schon wen übers Netz bestellt. Und der Hundekopf für morgen müsste abgesegnet werden, Andrej Danilowitsch. Den von heute haben die Krähen zerpickt. Ich hätte zwei zur Hand: einen frischen kaukasischen Schäferhund und eine Bordeaux-Dogge, gefrostet, bei ›Raureif‹ im Angebot. Soll ich sie bringen?«
»Hat Zeit bis morgen. Verschwinde jetzt.«
Fedka zieht ab. Anastassija löscht die Nachtlampe, entkleidet sich in der Dunkelheit, schlägt ein Kreuz, murmelt das Gebet zur Nacht und schlüpft zu mir unter die Decke. Rückt näher mit ihrem warmen nackten Leib, entfernt das goldene Glöckchen aus meinem Ohrläppchen, legt es auf den Nachttisch.
»Erlaubt Ihr, Euch zärtliche Liebe zu schenken?«
»Hat Zeit bis morgen«, brumme ich und senke die bleiernen Lider.
»Wie der Herr meinen«, seufzt sie in mein Ohr, streicht mir über die Stirn.
Da war doch was. Irgendwas Ungutes hat sie angestellt. Irgendeine Heimlichkeit. Aber was? Irgendwo war heute die Rede davon. Bei wem bin ich gewesen? Beim Alten. Bei den Wackelbrüdern. Bei der Gossudarin. Wo noch? Vergessen.
»Du hast mir nicht zufällig was gestohlen, he?«
»Gütiger Gott, was sagt Ihr da, Andrej Danilowitsch! Herrgott im Himmel!« Sie schluchzt auf.
»Nastilein, bei wem bin ich heute gewesen, sag!«
»Woher soll ich das wissen? Wahrscheinlich wart Ihr bei irgendeinem Liebchen in der Hauptstadt den Samen abschlagen. Drum bin ich schon nicht mehr genehm! Ach-ach, umsonst verhöhnt Ihr ein ehrbares Mädchen …«
Sie schluchzt.
Obwohl ich die bleischweren Glieder kaum rühren kann, versuche ich, sie zu umarmen.
»Mach halblang, Dummerchen, ich war in Staatsdingen unterwegs, hab mein Leben riskiert für die Sache …«
»Gott mög’s Euch vergelten und ein hundertjähriges Leben schenken«, murmelt sie brav, aber verschnupft. Schluchzt in die Dunkelheit.
Ein hundertjähriges Leben. Ob nun hundert Jahre oder weniger, ein Stück zu leben habe ich noch. Leben und leben lassen – den einen oder anderen … Mein Leben ist aufregend, aufreibend, aufopferungsvoll. Ein Leben in Verantwortung. Dienst an der großen Sache. Man muss sein Leben leben, allen Lumpen zum Trotz, Russland zu Nutz und Frommen … Mein weißes Pferdchen, halt ein … lauf nicht weg … Wo willst du hin, mein liebes … schönes … mein Zuckerpferdchen du … Pferde leben, Menschen leben … und wie sie leben! … Die Opritschnina, die ganze getreue Opritschnina … Solange die Opritschnina lebt, so lange ist Russland nicht verloren.
Und das ist gut so.
1. Auflage 2008
Titel der Originalausgabe: Den’ opritschnika
© 2006 by Vladimir Sorokin
All rights reserved
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
© 2008 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
eBook © 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Umschlaggestaltung: Rudi Linn, Köln
Umschlagmotiv: © Rudi Linn, Köln
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder
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