Tag vor einem Jahr
isst. Vielleicht kam es zu Veränderungen. Ich hasste Veränderungen. Ich liebte Routine. Diesbezüglich war ich wie ein Baby. Ich musste (mindestens) alle vier Stunden gefüttert und gelegentlich gewickelt werden und brauchte das beruhigende Gewicht von warmen Händen auf mir, wenn ich nachts nicht schlafen konnte. Sollte dieser Knabe Carolines bessere Hälfte sein und sollten Shane und ich jemals dazu kommen, unsere gemeinsame Zukunft zu planen, würde sich etwas verändern. Ich saß am Tisch und knüpfte feste Knoten in meine Haarsträhnen. Als ich auf die Uhr sah, war es 8 Uhr 15. Ich würde zu spät kommen.
»Oh Scheiße, verdammt!« Ich hievte mich vom Stuhl hoch und ging auf die Suche nach einem Oberteil, das sowohl sauber als auch gebügelt war, um es zu meinem Hosenanzug anzuziehen. Meine Oberteile kann man für gewöhnlich in zwei Kategorien einteilen: (1) sauber, aber nicht gebügelt, (2) schmutzig und ebenfalls nicht gebügelt. Was hat es schließlich für einen Sinn, ein schmutziges Top
zu bügeln? Die Zeit würde besser darauf verwendet sein, ein sauberes zu bügeln. Oder ein schmutziges zu waschen. Das weiß doch jeder. Ich fand zwei Oberteile der Kategorie 1 und mehrere der Kategorie 2. Von den beiden Kategorie-1-Oberteilen nahm ich das weniger zerknitterte – eine knappe Entscheidung – und machte mich auf den Weg zur warmen Dusche, um mich selbst wach zu bekommen. Während das heiße Wasser mein Gehirn durchknetete und den Gedankenprozess ankurbelte, fielen mir vier schöne Dinge ein, die heute stattfinden würden:
1. Ethan zum Mittagessen treffen.
2. Schadenfroh Ethan zuwinken, wenn er nach dem Mittagessen zum Büro zurückkehren musste und ich nicht (freier Nachmittag).
3. Freier Nachmittag.
4. Ein Spray Tanning bekommen.
Ich lächelte und führte unter der Dusche einen kleinen Tanz auf, wobei ich in Erinnerung an das, was beim letzten Mal passiert war, sorgfältig darauf achtete, meine Füße auf der Duschmatte zu belassen …
Während ich unter der Dusche herumtänzelte, verpasste ich einen Anruf. Wahrscheinlich war es Ethan, der das Mittagessen festmachen wollte. Er würde auch noch eine E-Mail schicken, darauf konnte ich meine Tina-Turner-Sammlung verwetten.
Doch der verpasste Anruf war nicht von Ethan. Er war von Shane. Er hatte eine Nachricht hinterlassen, und mit einem plötzlich ungutem Gefühl wählte ich mich in meine Mailbox ein. Die Nachricht war kurz.
»Grace, ich rufe wegen morgen an.« Shane sprach mit gedämpfter Stimme, und mir war klar, dass er gerade in
seinem Büro war. Er tätigte von der Arbeit aus nur selten persönliche Anrufe. Ich fühlte meine eigene Anspannung. Hätte ich Nackenhaare gehabt, hätten sie sich aufgestellt.
»Graham kommt morgen mit mir nach Dublin, und er besteht darauf, dass ich mit ihm etwas in der Stadt unternehme.«
Eine weitere Pause, dann fing er wieder an, diesmal mit einer gewissen Schärfe in der Stimme, so als hätte ich widersprochen.
»Wenn ich dem entkommen könnte, würde ich es tun. Aber das gehört eben auch zu meiner Arbeit, und du weißt, wie wichtig sie mir ist.« Das wusste ich allerdings. Shane war ein »Arbeitstier« (seine Worte) und rühmte sich – vorzugsweise in Hörweite der obersten Bosse seiner Firma -, immer alles richtig zu machen.
»Ich möchte den Weg des Erfolgs gehen«, sagte er. Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sei gesagt: Er ging den Weg des Erfolgs. Es war die Tatsache, dass er ihn ohne mich ging, die mir zu schaffen machte.
Die Nachricht war gleich zu Ende, jetzt mit abschließenden sanfteren Worten: »Ich kann es nicht erwarten, dich zu sehen. Lass mich zuerst das Geschäftliche erledigen, dann konzentriere ich mich voll und ganz auf dich, Süße. In Ordnung? Grace? Bitte sei nicht böse.«
Schließlich eine Menge dumpfer und knacksender Geräusche, als hätte er ohne hinzusehen aufgelegt. Ich saß auf der Bettkante, mehr wütend als enttäuscht. Man hätte meinen sollen, er hätte sich etwas Besseres einfallen lassen können. Graham auf ein paar Drinks auszuführen? Shanes Chef war ein verfluchter Einheimischer aus Rathfarnham und brauchte einen Stadtführer ebenso dringend wie die verfluchte Molly Malone.
Ich konnte ihn vor mir sehen, über seinen Schreibtisch
gekrümmt, die Hände auf den Telefonhörer gelegt, blonde Haarsträhnen über dem schönen Gesicht. Konnte es sein, dass ich überreagierte? Ich meine, der Junge musste sein Brot verdienen, oder etwa nicht? Wahrscheinlich bekam
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