Tag vor einem Jahr
wir es einmal so: Hinge von der Decke ein Kandelaber, hätten sie daran hin und her geschaukelt. Die Atmosphäre am Boden war nicht weniger geräuschintensiv.
»Grace, du hast es geschafft, wir waren ja sooooo besorgt.« Das kam von Norman, der einen blassblauen Anzug und ein babyrosa Hemd anhatte. Eigentlich hätte er wie ein billiger Zuhälter oder ein Nachtclub-Besitzer aussehen müssen, aber seltsamerweise tat er das nicht. Er stolzierte auf mich zu, erdrückte mich fast in seiner Umarmung, und während er mir fieberhaft übers Haar strich, erging er sich immer und immer wieder überschwänglich in dem Ausruf: »Gott sei Dank, Gott sei Dank!« Plötzlich stieß er mich auf Armeslänge von sich und legte los: »Mach das nie wieder. Wir waren außer uns vor Sorge.«
Er beendete diesen Satz in einem Crescendo, mit dem er noch die Aufmerksamkeit der Kakerlaken im Keller erregte.
Alle Blicke schossen in Grace-Richtung und ließen mich meines Gesichts gewahr werden, dass noch immer von der Begegnung mit Mark, dem GF, im Verbindungskorridor gerötet war. Ich versuchte mich zu meinem Schreibtisch zu schleichen, aber Norman hatte gerade eine Glückssträhne. Den Arm noch immer um meine Schulter gelegt, drehte er sich zu seinem Publikum: »Hier gibt es nichts zu sehen, Leute. Geht an eure Arbeit zurück. Wir haben Sie wieder, gesund und munter. Das ist das Wichtigste.«
Unter meinen Wimpern hindurch konnte ich Bernard O’Malley sehen, der hinter einem Schreibtisch saß, der zu klein für ihn aussah. Er warf mir ein Lächeln zu, bevor er in seinem Stuhl herumschwenkte und die Position einnahm (über seinen Schreibtisch gebeugt, in seinen Monitor starrend, seine klitzekleine James-Joyce-Nickelbrille die Nase hochschiebend).
Ich wand mich aus Normans Umklammerung und ging beschleunigten Schrittes unter den Blicken der Kollegen zu meinem Tisch, während ich meine eigenen Augen demonstrativ gen Himmel richtete und beiläufig mit meiner Zunge schnalzte.
Sobald ich mich in meiner kleinen Arbeitsnische niedergelassen hatte, schaltete ich den Computer an und horchte. Ja, da kam es. Das unaufdringliche Klingelgeräusch, das mich wissen ließ, dass ich Post hatte. Ich liebte E-Mails. Ehrlich gesagt, ich wusste gar nicht, was ich vor dem Zauber der elektronischen Post getan hatte. Heutzutage konnte man höchstwahrscheinlich ein richtiges Eigenleben führen, ohne jemals die Behaglichkeit seines Stuhls verlassen zu müssen (selbstredend brauchte man einen Computer in
der Nähe dieses Stuhls, vorzugsweise auf einem Tisch und mit einer Verbindung zum Internet). E-Mail war eine Art Beichtstuhl, obwohl ich mich seit Jahren in keinem dieser hölzernen Kästen mehr aufgehalten hatte. Immerhin hatte ich dessen Heiligkeit stets genossen, das Erzählen der Sünden in diesem geschlossenen, dunklen Raum, den warmen, süßlichen Geruch, die hochglanzpolierte Wandverkleidung, das Gesicht des Priesters, das sich in dem Halbdunkel schemenhaft abzeichnete und einem niemals zugewandt war. Es fühlte sich sicher und heimelig an – so wie meiner Vorstellung nach die Gebärmutter für ein Baby -, und ich hatte in diesem Kokon niemals Schwierigkeiten, meine schlimmsten Taten zu gestehen. »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Es ist eine Woche her seit meiner letzten Beichte. Ich habe einen Stein gegen Mrs O’Gradys Fenster geschleudert und es versehentlich eingeworfen, weil sie gesagt hat, wir würden uns mit unserem Geschrei und unserem Theater wie die Kesselflicker aufführen und sie würde uns nicht mehr auf den Baum in ihrem Vorgarten klettern lassen.« Egal wie entsetzlich die Enthüllungen waren, die Vergebung folgte immer auf den Fuß. Absolution. Reinigung. Ein paar »Ave Maria« weiter, und du bist so gut wie neu, bereit hinzugehen und einmal mehr zu sündigen, damit du nächste Woche für genau das Gleiche wiederkommen kannst.
Wie auch immer, E-Mails hatten für mich etwas davon. Es ist erstaunlich, was man einem anderen alles erzählen kann, wenn man sein Gesicht dabei nicht sieht. Es waren zehn neue Nachrichten eingegangen, einschließlich einer von Ethan. Die Bestätigung des Mittagessens. Ich lehnte mich gemütlich zurück, den Kaffee in der einen Hand, die Maus in der anderen, und klickte die zweite Mail an. Sie kam von Clare.
Es war schön, dich gestern Abend zu sehen. Nachdem du weg warst, hat Mam angerufen. Sie scheint sich wegen dir ein bisschen Sorgen zu machen. Ich habe ihr gesagt, dass es dir gutgeht. Das tut es
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