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Tag vor einem Jahr

Titel: Tag vor einem Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Geraghty
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wünschte mir nicht zum ersten Mal, Clare ähnlicher zu sein.
    »Warst du schon auf dem Friedhof? Seit der Beerdigung, meine ich?«
    Das war noch etwas, was mich von den anderen unterschied. Mam ging jeden Tag, Clare hatte mir das erzählt. Jane, wie immer praktisch, brachte alle paar Wochen die Kinder mit, um das Grab zu »pflegen«. Clare ging immer dann, wenn sie ihm etwas zu erzählen hatte. Sie sagte, sie könne ihn dort spüren. Ich konnte ihn nirgends spüren, und ein Besuch an einem Grab würde daran nichts ändern.
    »Nein«, sagte ich, »noch nicht.«
    Es war schwer, in ihrem Gesicht zu lesen, aber sie umarmte mich fest, wobei sie auf den Zehenspitzen stand.
    Ich hätte ihr gern von Bernard erzählt, aber ich wusste nicht, weshalb, und auch nicht, wie ich es anfangen sollte. Stattdessen berichtete ich ihr von Shane und dass er am Wochenende kommen würde.
    »Das wird sicher nett werden, Grace. Er hat dich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, oder?« Ich dachte über die Frage nach. Clare hatte Recht. Shane hatte mich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Seit sehr langer Zeit nicht mehr.

18
    Triest, September 2003
    Liebe Grace,
    bin gestern aus Venedig hierhergekommen. Der Zug fährt ein Stück die Küste entlang, und ich sah zum ersten Mal die Adria. Von hier aus kann man, den Stiefel von Italien hinunter, nach Griechenland schippern. Die Idee, der Sonne um die ganze Welt zu folgen, gefällt mir, insbesondere wenn ich daran denke, dass ich mich nächstes Jahr um diese Zeit wieder als frierender Buchhalter im irischen Herbst einrichten muss. Ja, mit dem Schreiben geht es gut voran. Für den Fall, dass die Worte versiegen, bezeichne ich es lieber noch nicht als Buch. Aber jetzt gibt es schon Seiten, ja sogar Kapitel. Und Figuren, die ohne mein Wissen auftauchen. Das liebe ich am Schreiben, dass man nicht richtig weiß, was sich im eigenen Kopf befindet und zu was man fähig ist, bis man es niederschreibt.
    Nach Venedig erscheint einem Triest ruhig und irgendwie wirklicher. Unten am Hafen gibt es ein Aquarium, das du lieben würdest. Leuchtende kleine Fische mit runden Gesichtern und gut genährte Haie, die über dir schwimmen und dich von beiden Seiten ihres Kopfes aus mit schwarzen Augen ansehen. Dort unten traf ich gestern ein Mädchen, Chiara.
Sie arbeitet dort den Sommer über und studiert Meeresbiologie. Heute Abend treffen wir uns. Bevor ich auf Reisen ging, war ich nie so beliebt bei den Frauen. Vielleicht kommt es daher, dass ich allein bin und sie sich denken, »schaut euch mal den armen Rotschopf an«. Und es ist nicht etwa so, dass ich in der Sonne gold-braun oder so geworden wäre. Alles was passiert ist, ist, dass ich noch mehr Sommersprossen bekommen habe und nun in der Farbe des verdammten »Lachses der Weisheit« leuchte. Egal, ich beklage mich nicht. Chiara nimmt mich auf den Spuren von James Joyce mit. Er hat hier etwa zehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gelebt, Ein Porträt des Künstlers als junger Mann geschrieben und Dubliners vollendet. Und man sagt, er hätte hier auch mit Ulysses begonnen.
    Im Moment sitze ich auf der Hauptpiazza und trinke einen Kaffee, der sehr klein, sehr stark und sehr schwarz ist. Es ist Nachmittag, also ist kein Milchkaffee erlaubt. Sie sind mit ihrem Kaffee noch pedantischer als die Franzosen. Der Platz ist, wie zu erwarten, prächtig. Die Leute hier auf dem Kontinent wissen, was sie an ihren Plätzen haben. Die Sonne wärmt mir den Rücken, und auf meinem Tisch liegt ein Stapel – ungelesener – Bücher, die ich für einen Spottpreis in einer der abgelegenen engen Gassen in einem Buchladen erstanden habe. Hier gibt es Kopfsteinpflaster und Fensterläden aus Holz. Und eine kurvenreiche Straße hinauf zu einer Festung. Dieser nomadenhafte Lebensstil hat etwas so Reizvolles, so Einfaches.
    Übrigens habe ich deine E-Mail erhalten. Hoffe, dass du und Shane euch wieder vertragt. Du solltest
dich nicht so mies fühlen, weil du allein ins Kino gehst. Sieh die Vorteile: Du musst deinen Eimer Popcorn nicht teilen und kannst es dir in einem dieser Sitze, die für zwei gedacht sind, richtig bequem machen. Verdrehst du jetzt deine Augen und schüttelst den Kopf? Das tust du, nicht wahr?
    Deine neueste Diät klingt nach der verrücktesten, die du je gemacht hast – und ich war Zeuge der Diät, bei der alles Essen mit p beginnen musste. Erinnerst du dich? Du bist so, wie du bist, wunderbar. Dad hat das immer gesagt, und es stimmt. Weißt du noch, wie er immer am

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