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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Verantwortung trug, und so bestätigte sie in seinem Innern seine Trauer und seine Angst. Er sah auf und erblickte, aufrecht, voller Würde und doch vertraut, einen Fremden dastehen, der eine nicht zu bestimmende und dennoch ergreifende Art an sich hatte. Dominik empfing mit einigen achtungsvollen Worten seine traurige und ihrer selbst sichere Autorität.
    »Dominik, soll ich der einzige sein, den du nicht zu Abend einlädst? Du hast vieles bei mir gutzumachen – aus alter Zeit. Und dann will ich dich lehren, auf die andern zu verzichten, die dich in deinem Alter verlassen werden.«
    »Ich lade dich zum Abendessen ein«, antwortete Dominik mit einer gemachten Ernsthaftigkeit, die er sonst an sich nicht kannte.
    »Ich danke«, sagte der Fremde.
    Keine Krone war eingegraben auf dem Wappenschilde seines Siegelrings, und der Geist hatte auf seinen Worten nicht mit seinen spitzen Nadeln seine hoch leuchtende Spur eingeritzt. Aber aus seinem brüderlichen Blick sprach Dankbarkeit.
    »Willst du mich aber bei dir behalten, mußt du den andern Adieu sagen.«
    Dominik hörte sie schon an die Tür pochen; die Leuchter waren noch nicht entzündet, es herrschte tiefe Nacht.
    »Ich kann sie nicht fortschicken«, sagte Dominik, »ich kann nicht allein sein.«
    »Ja, das wärest du – mit mir zusammen heißt allein sein«, sagte traurig der Fremde. »Und doch solltest du mich bei dir behalten. Du hast alte Schuld gegen mich und solltest sie gutmachen. Ich liebe dich mehr als die anderen und werde dich lehren, wie man sie entbehren kann. Bist du einmal alt, werden sie nicht kommen.«
    »Ich kann nicht«, sagte Dominik.
    Und doch fühlte er, daß er ein edles Glück opferte unter dem Druck einer zum Herrn gewordenen banalen Gewohnheit, die nicht einmal reich genug war, seinen Gehorsam dereinst mit billigen Vergnügungen belohnen zu können.
    »Entscheide dich schnell!« antwortete der Fremde, flehend und stolz zugleich.
    Dominik ging ans Tor, um den Gästen zu öffnen, und ohne den Mut zu finden, seinen Kopf zu wenden, fragte er den Fremden: »Wer bist du denn?«
    Und im Verschwinden antwortete der Fremde: »Die Gewohnheit, der du mich heute opferst, wird morgen noch stärker sein, denn du hast sie genährt mit dem Blute aus meiner Wunde. Sie wird noch tyrannischer werden, denn du hast ihr wieder einmal gehorcht, mit jedem Tage wird sie dich mehr von mir abwenden, sie wird dich zwingen, mich noch mehr zu quälen. Bald wirst du mich getötet haben. Du wirst mich nie wiedersehen. Und doch bist du mir tiefer verpflichtet als den anderen, die dich, bald schon, verlassen werden. Ich bin in dir und doch auf ewig, auf ewig weit geschieden, fast bin ich schon nicht mehr. Deine Seele bin ich, ich bin du selbst.«
    Die Gäste waren eingetreten. Man begab sich in den Speisesaal, wo Dominik seine Unterredung mit dem verschwundenen Gaste erzählen wollte, aber angesichts der allgemeinen Langeweile, angesichts auch der großen Anstrengung, die es den Hausherrn kostete, sich eines fast verblichenen Traumes gewärtig zu werden, unterbrach Girolamo zur Zufriedenheit aller und Dominiks selbst die Rede und zog folgenden Schluß:
    »Man muß nie allein bleiben; Einsamkeit ist die Mutter der Melancholie.«
    Dann setzte man sich nieder zum Gelage. Dominik plauderte frisch, aber ohne Freude; indessen fühlte er sich geschmeichelt durch seine prachtvolle Tafelrunde.
XIV
Traum
»Deine Tränen strömten über mich,
meine Lippen haben dein Weinen getrunken.«
     
Anatole France
     
    Ohne Mühe kann ich mich meiner Meinung über Frau Dorothy B. entsinnen, wie sie am Sonnabend (vor vier Tagen also) war. Zufällig hatte man gerade an diesem Tage von ihr gesprochen, und meine aufrichtige Ansicht war die, daß ich sie ohne höheren Reiz und Geist fände. Ich glaube, sie ist zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt. Übrigens kenne ich sie kaum, keine frische, kurz zurückreichende Erinnerung konnte, wenn ich an sie dachte, meine Aufmerksamkeit in besonderem Maße fesseln, ich sah einfach die Buchstaben ihres Namens vor mir und weiter nichts.
    Ich legte mich nun an diesem Sonnabend zeitig zu Bett. Gegen zwei Uhr morgens wurde aber der Wind so stark, daß ich aufstehen mußte, um einen schlecht befestigten Fensterladen zu schließen, der mich aufgeweckt hatte. Ich warf nun einen Rückblick auf den kurzen Schlummer, der hinter mir lag, und ich freute mich darüber, daß der Schlummer voll Erholung, ohne Druck, ohne Träume gewesen war. Kaum war ich wieder im

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