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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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ungeheuer hoch aber in der Geschichte der Gefühle innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Die Achtung (ich sage nicht, die Liebe) für die üble Musik ist nicht allein sozusagen eine Form der geschmackvollen Nächstenliebe oder ihr Skeptizismus, vielmehr ist es das Wissen um die soziale Rolle der Musik. Wie viele Melodien, die in den Augen eines Künstlers ganz wertlos sind, sind aufgenommen in den Kreis der vertrauten Freunde von tausend jungen Verliebten oder romantisch Lebenshungrigen. Da gibt es »Goldringelein« und »Ach, bleib lange vom Schlummer gewiegt …«, es sind Notenhefte, die Abend für Abend zitternd von Händen umgewendet werden, die mit Recht berühmt sind. Die schönsten Augen der Welt haben Tränen über ihnen vergossen, einen traurig-wollüstigen Tribut, um den der reinste Meister der Kunst sie beneiden könnte – es sind Vertraute von Geist und Gedankenflug, die den Kummer veredeln, den Traum steigern; und als Dank für das ihnen anvertraute brennende Geheimnis geben sie berauschende Illusionen von Schönheit zurück. Das Volk, das Bürgertum, die Armee, der Adel haben immer dieselben Briefträger und Trauerträger bei schwerem Unglück und hellstem Glück, und so haben sie auch dieselben unsichtbaren Liebesboten, dieselben sehr geliebten Beichtväter. Es sind die schlechten Musiker. Hier, dieser grauenhafte Refrain, den jedes gut veranlagte und guterzogene Ohr beim ersten Hören von sich weist, er hat den Schatz von tausend Seelen empfangen, er bewahrt das Geheimnis von unzähligen Lebensläufen, denen er blühende Inspiration bedeutet hat und immer bereite Tröstung – denn immer lag das Notenheft halbgeöffnet auf dem Klavierpulte –, es bedeutete ihnen träumerische Anmut und das Ideal. Diese Arpeggien, diese Kadenz haben in der Seele von vielen Verliebten oder Träumern mit paradiesischen Harmonien widergeklungen oder gar mit der Stimme der vielgeliebten Frau. Ein Heft schlechter Romanzen, abgenutzt von vielem Gebrauche, sollte uns rühren wie eine Gruft oder wie eine Stadt. Was liegt daran, daß die Häuser keinen Stil haben, daß die Gräber unter dummen Inschriften oder banalen Ornamenten verschwinden? Auch von diesem Staubhaufen kann sich, kraft einer wohlwollenden, achtungsvollen Einbildungskraft, die im Augenblick ihren ästhetischen Widerwillen zurückstellt, eine Wolke von Seelen erheben, die zwischen den Lippen noch den grünen Zweig des Traumes trägt, im Vorgefühl der anderen Welten, im Nahgefühl zu Schmerz und Freude hier, in der unseren.
XII
Begegnung am Ufer des Sees
    Bevor ich gestern zum Diner ins Bois ging, hatte ich einen Brief von ihr empfangen, der eine außerordentlich förmliche Antwort auf meinen verzweifelten Brief vor acht Tagen enthielt – sie sagte kalt, sie fürchte, mir vor ihrer Abreise nicht mehr Adieu sagen zu können. Ich aber, nicht weniger frostig, antwortete ihr, daß dies das beste sei und daß ich ihr einen schönen Sommer wünsche. Dann kleidete ich mich an und fuhr quer durch das Bois in einem offenen Wagen. Ich war unendlich traurig, aber ruhig. Entschlossen, zu vergessen, hatte ich meine Entscheidung getroffen, und alles andere war Sache der Zeit.
    Der Wagen fuhr am See entlang. Da bemerkte ich in der Tiefe eines kleinen Weges, der den See in fünfzig Meter Entfernung von der Allee umkreist, eine einzelne Dame, die langsam ging. Ich erkannte sie vorerst nicht. Sie grüßte mich leichthin mit der Hand, und jetzt erkannte ich sie trotz der Entfernung.
    Sie war es. Ich grüßte sie tief. Sie sah mich unaufhörlich an, als wünschte sie, ich solle anhalten und sie mit mir nehmen. Ich tat nichts, aber ich fühlte sofort, wie eine fast greifbare Erregung mich übermannte, um mich beinahe zu erdrücken. »Hab’ ich’s nicht geahnt«, rief ich, »es muß unbekannte Gründe geben, denen zuliebe sie immer die Kalte gespielt hat. Sie liebt mich, die teure Seele.« Ein unendliches Glück, eine unbesiegliche Gewißheit erfaßten mich. Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe und brach in Tränen aus. Der Wagen kam in die Gegend von Armenonville, ich trocknete meine Augen, und vor ihnen erschien, um die letzten Tränenspuren fortzuküssen, der süße Gruß ihrer Hand – auf meine Augen blieben ihre Augen geheftet mit der sanften Frage, mit dem Wunsche, mit mir zu kommen.
    Strahlend erschien ich zum Diner. Mein Glück ergoß sich über alle in fröhlicher Liebenswürdigkeit, in herzlicher Dankbarkeit, dazu kam noch die Empfindung, daß kein Mensch wisse,

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