Tage der Freuden
und hat ihr Unrecht getan. Wenn einer alles will, wenn ihn aber auch dieses alles unbefriedigt ließe, so erscheint einem solchen Menschen eine kleine Gabe nur als irrsinnige Grausamkeit. Aber jetzt verstehen wir diese Gabe zu schätzen, als großmütiges Geschenk von der Hand der Frau, die sich durch unsre Verzweiflung, unsre Ironie, unsre ewige Tyrannei nicht hat entmutigen lassen. Sie blieb sanft, wie sie es war. Verschiedene Bemerkungen, deren wir uns heute in diesem Zusammenhang entsinnen, erscheinen jetzt duldsam und richtig zugleich; und voll echten Zaubers – es waren Bemerkungen von ihr, der wir kein Verständnis zutrauen wollten, da sie uns doch nicht liebte. Aber im Gegensatz dazu haben wir von ihr mit so viel ungerechtem Egoismus, mit so viel Härte gesprochen. Sind wir ihr nicht tiefer verpflichtet? Wenn diese hohe Flut der Liebeswogen sich auf immer zurückgezogen hat, dann können wir immer noch, wenn wir in unserer Seele wandeln und wandern, seltsame, bezaubernde Muscheln finden, und halten wir diese ans Ohr, dann dürfen wir mit melancholischer Freude und jetzt ohne zu leiden das unfaßbare Raunen von einst vernehmen. So denken wir dann mit Zärtlichkeit an sie, die zu unserem Unglück mehr geliebt ward, als sie lieben konnte. Nun ist sie nicht »mehr als tot« für uns. Sie ist eine Abgeschiedene, deren man leidenschaftlich gedenkt. Die Gerechtigkeit gebietet, wir sollen unser Urteil über sie berichtigen. Durch die allkräftige Macht der Gerechtigkeit wird sie geistig in unserem Herzen wiedergeboren, um vor diesem letzten Gericht zu erscheinen, das wir über sie halten, fern von ihr, die Augen von Tränen verdunkelt.
XIX
Wahre Gegenwart
Wir haben einander geliebt in einem verlorenen Örtchen des Engadins, das einen zweifach süßen Namen trägt, die traumhaft tiefen deutschen Laute verlieren sich in der Sinnenfreude italienischer Silben. Ringsum gibt es drei seltsam grüne Seen, die zwischen tiefen Tannenwäldern liegen. Eisberge und Spitzen schließen den Horizont ab. Am Abend vervielfältigt die Verschiedenheit der Gegenden den Reiz der Beleuchtung. Werden wir je die Spaziergänge am Ufer des Sees von Sils-Maria vergessen, im sinkenden Spätnachmittag gegen sechs Uhr? Hier sind die Lärchen, getaucht in kristallenes Schwarz, hart gegen den blendenden Schnee abgehoben; gegen das bleiche, blaue Wasser fast malvenfarben, wird es ein süßes, leuchtendes Grün, worin die ausgebreiteten Zweige glänzen. Eines Abends war die Stunde uns besonders günstig. In den wenigen Augenblicken des Sonnenuntergangs durchlief das Wasser alle Farbtöne, unsere Seelen die ganze Stufenleiter der Wonne. Plötzlich wandten wir uns um, da sahen wir einen kleinen Schmetterling daherkommen, dann zwei, dann fünf, wie sie die Blumen an unserem Gestade verließen, um über dem See sich zu wiegen. Bald schienen sie eine unfaßbare Wolke fortgewehter Rosen, bald landeten sie an den Blumen am anderen Ufer, sie kamen zurück, um von neuem sanft ihre abenteuerliche Überfahrt zu wagen, und bisweilen zögerten sie, verlockt, über dem kostbar getönten See, der in seinen Farben einer großen sterbenden Blüte glich.
Das war zuviel, unsere Augen füllten sich mit Tränen. Diese kleinen Schmetterlinge, die über den See segelten, kamen und gingen über unsere Seelen – über unsere Seele, die angespannt war von Erregung durch so viel Schönes, bereit, zu vibrieren, zu erbeben –, sie gingen dahin und kamen wie ein wollüstiger Geigenstrich. Die zarte Bewegung ihres Fluges streifte das Wasser nie, aber unsere Augen liebkosten sie, unsere Herzen; jedes Zittern ihrer rosenfarbigen Flügelchen brachte uns einer Ohnmacht nahe. Als wir sie bei ihrer Rückkunft vom anderen Ufer wahrnahmen, als wir ihr Spiel, ihr freies Wandeln über die Wasser entdeckten, da klang eine zauberhafte Harmonie in uns wider. Indessen kamen sie zurück mit tausend Arabesken ihrer Laune, dadurch veränderten sie die einfache Harmonie und zeichneten eine Melodie von märchenhafter Phantasie. Unsere Seele war klangreich geworden, sie lauschte jenem schweigenden Fluge, sie hörte aus ihm eine wundervoll frei gezogene Musik heraus, in der all die sanften, starken Harmonien des Sees sich durchdringend einten mit denen der Wälder, des Himmels und mit unserer eigenen – und mit magischer Süße spielte unser Leben dazu die Begleitung und ließ uns in Tränen ausbrechen.
Ich habe dir nie davon erzählt, und du warst meinen leiblichen Augen fern in diesem Jahre.
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