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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Aber wie haben wir einander doch im Engadin geliebt! Nie konnte ich genug von dir bekommen, nie ließ ich dich allein daheim. Du begleitetest mich bei meinen Spaziergängen, aßest mit mir an der Tafel, schliefest in meinem Bett, träumtest in meiner Seele mit. Ist es möglich, daß dich ein sicherer Instinkt als geheimnisvoller Bote nicht von diesen kindlichen Einfällen unterrichtet hat, in die du so eng verstrickt warst, daß du hier lebtest, daß du wahrhaft in ihnen existiertest, denn so sehr besaßest du in mir »wirkliche Gegenwart«. So blieben wir eines Tages (keiner von uns kannte Italien ) ganz betroffen von der Bemerkung, die man über Alpgrun machte: »Von hier kann man bis nach Italien sehen.« Wir brachen nach Alpgrun auf. Wir stellten uns vor, die Ansicht der Landschaft, wie sie sich vor dem Gipfel ausbreitete, würde an der Stelle, wo Italien begann, mit einem Male ihren wirklichen harten Charakter verlieren, und es müßte in der Tiefe ein traumhaft blaues Tal sich öffnen. Erst auf dem Wege bedachten wir, daß eine Grenze nicht den Boden des Landes ändern kann, und wenn sie ihn auch änderte, so geschähe dies so unmerklich, daß wir es nicht mit einem Blick merken könnten. Ein wenig waren wir enttäuscht, aber wir lachten beide, daß wir so kindlich gewesen waren.
    Ganz betroffen blieben wir aber, als wir am Gipfel angelangt waren: unsere kindliche Phantasie hatte sich vor unseren Augen in Wirklichkeit verwandelt. Eisberge funkelten uns zur Seite. Zu unseren Füßen säumten Gießbäche das düstere Land von Engadin mit dunklem Grün. Dann ein geheimnisvoller Hügelzug, und über malvenfarbene Hänge hin öffnete sich und schloß sich ein blaues Wunderland, eine blinkende Straße gen Italien. Die Namen waren die gleichen nicht mehr, von hier an harmonierten sie mit dieser neuen Süße, man zeigte uns den See von Poschiavo, den Pizzo di Verone, das Tal de Viola. Und dann kamen wir in eine unerhört wilde, einsiedlerische Gegend, hier steigerte die verzweifelt düstere Natur und die Gewißheit, man sei hier von allem abgeschieden, unsichtbar und unbesiegbar, die Wonne gegenseitiger Liebe bis zur Raserei. Jetzt fühlte ich erst mit Schmerz, daß du nicht leibhaftig neben mir warst. Es tat mir im Herzen weh, daß du nur gekleidet in den Mantel des Verzichtes neben mir weiltest, aber nicht in der echten Wirklichkeit meiner Sehnsucht. Ich stieg ein wenig hinab bis zu der immer noch hohen Stelle, wohin der Aussicht wegen die Fremden kommen. In einer einsamen Hütte gibt es ein Buch, in das sie ihre Namen schreiben. Ich schrieb den meinen und dann eine Buchstabenphantasie, die deinem Namen ähnlich sah, denn es war mir unmöglich, auf einen äußeren Beweis deines Nebenmirseins in der wirklichen Tatsachenwelt zu verzichten. Indem ich ein Atom von dir in dieses Buch setzte, war’s mir, als ob ich mich um ebensoviel von dem erdrückenden Gewicht befreite, mit dem du meine Seele belastetest. Und dann hatte ich die ungeheure Hoffnung, dich eines Tages heraufzuführen, um diese Zeile zu lesen, und dann würdest du mit mir höher steigen, um mich ganz für diese Traurigkeit zu entschädigen. Ohne ein Wort hättest du alles verstanden, oder besser, alles wäre dir wieder in die Erinnerung zurückgekommen. Während du höher stiegst, gabst du dich mir tiefer hin. Du würdest dich sogar ein wenig auf mich stützen, damit ich nur ja deutlich fühle, du seiest dieses Mal hier, ganz bei mir, und zwischen deinen Lippen, die immer etwas nach türkischen Zigaretten duften, sollte ich alles Vergessen der Welt finden. Und auf dem Gipfel würden wir sinnlose Worte laut herausschreien in dem glorreichen Bewußtsein, niemand, auch noch so fern, könnte uns hören. Bloß die kurzen Gräser würden zittern, leise gestreift vom Höhenwinde. Der Aufstieg würde deine Schritte langsamer machen, ein wenig schwer atmest du, und mein Gesicht nähert sich deinem, um deinen keuchenden Hauch zu fühlen, wir sind beide nicht bei Sinnen, wir wandern dorthin, wo es einen weißen See gibt neben einem sanften schwarzen, wie eine weiße Perle neben einer schwarzen. Wie hätten wir einander geliebt in dem verlorenen Nest im Engadin! Wir hätten niemanden zu uns kommen lassen als die Bergführer, diese hochgewachsenen Männer, deren Augen anderes widerspiegeln als die Augen der anderen Männer, als seien sie aus anderem »Wasser«. Aber ich brauche mich gar nicht um dich zu kümmern. Die Sättigung ist da vor dem Besitz. Ich will dich gar

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