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Tage der Freuden

Tage der Freuden

Titel: Tage der Freuden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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nicht in dieses Land führen. Ohne daß du es verstehst, ja ohne daß du es kennst, rufst du es mit so rührender Treue in die Wirklichkeit! Dein Anblick besitzt für mich den einzigen Zauber, mich sofort zu erinnern an alle diese Namen von fremdartiger Süße, deutsch und italienisch zugleich: Sils-Maria, Silva Plana, Crestalta, Celerina, Juliers, Val de Viola.
XX
Sonnenuntergang von innen betrachtet
    Wie die Natur, hat auch die Welt des Geistes ihre Schauspiele. Ein Sonnenaufgang, eine Mondscheinnacht, sie haben, wenn sie mich sonst auch bis zum Wahnsinn, bis zu Tränen ergreifen können, niemals haben sie dieses leidenschaftlichste Zärtlichkeitsgefühl, dieses weltweite, melancholische Entflammtsein in mir erweckt, wie es bei abendlichen Spaziergängen unabsehbar die Wogen meiner Seele durchtränkt, wie eine Sonne, die in ihrem stärksten Glänze unabsehbar in dem Meere untergeht.
    So wollen wir denn so schnell wie möglich unsere Schritte in die Natur lenken. Keinen Jäger hat je die beschleunigte Flucht eines ersehnten Wildes mehr bedrückt und berauscht als uns die hochaufgerührten Gedanken, denen wir uns zitternd in Vorfreude hingeben; je mehr wir sie besitzen, je leichter wir sie lenken, desto tiefer, unwiderstehlicher fühlen wir uns an sie gekettet. Mit einer leidenschaftlichen Erregung durchstreifen wir das dunkle Gefild, wir grüßen die nachtbehangenen Eichen, denn sie sind der feierliche Schauplatz, sie sind die heldenhaften Zeugen des Aufschwungs, der uns vorwärts treibt, der uns trunken macht. Wer kann, wenn er die Augen zum Himmel erhebt, sich der äußersten seelischen Entflammung entziehen, wenn er zwischen den Wolken, die noch den Abglanz der letzten Sonne tragen, den geheimnisvollen Widerschein unserer Gedanken wiedererkennt: Tiefer und schneller noch verlieren wir uns in der Ebene, und der Hund, der uns folgt, das Pferd, das uns trägt, oder der Freund, der verstummt – oder doch wenigstens, wenn kein lebendes Wesen neben uns ist, die Blume in unserem Knopfloch, oder der Reitstock, der lustig in unseren fiebernden Händen wirbelt –, eins von diesen allen ist es, was in Blicken und Tränen den melancholischen Tribut unserer Weltentrücktheit empfängt.
XXI
Dem Mondschein gewidmet
    Die Nacht war gekommen, ich war in mein Zimmer zurückgekehrt, da es mich ängstlich machte, im Dunkel ohne Blick auf den Himmel, auf die Felder und das sonnenbeglänzte Meer zu verweilen. Als ich aber die Tür öffnete, sah ich das Zimmer erhellt wie von einem Sonnenuntergang. Durch das Fenster sah ich Haus, Felder, Himmel und Meer, oder vielmehr, sie erschienen mir, wie man etwas im Traume sieht: der sanfte Mondenschimmer deutete sie viel eher an, als daß er sie scharf abzeichnete, er umwölkte ihren Umriß mit bleichem Glanz, der die Finsternis nicht verscheuchen konnte. Es war wie ein dichter Schleier, gebreitet um eine vergessene Form. Und ich habe Stunden damit verbracht, im Hofe das Erinnerungsbild der Dinge zu betrachten, matt, stumm, unfaßbar, zauberhaft und entlichtet, wie die Dinge jetzt waren, die mir tagsüber Freude oder Schmerz bereitet hatten mit ihren Schreien, ihren Rufen, ihren Stimmen oder mit ihrem summenden Leben.
    Erloschen ist die Liebe, ich habe Angst, die Schwelle des Vergessens zu überschreiten. Aber, befriedet, ein wenig blaß, sehr nah bei mir und doch schon nicht mehr zu fassen, reihen sich hier wie im Mondenglanz all die Tage des geschiedenen Glücks, all mein Kummer ist gestillt – und wie blickt mich dies alles an und schweigt! Dies Schweigen tut mir wohl, indessen die weite Entfernung, der unbestimmbare blasse Glanz mich trunken machen von Trauer und Poesie. Und ich kann meine Augen nicht wenden von diesem inneren Mondschein.
XXII
Kritik der Hoffnung am Lichte der Liebe
    Kaum ist eine Zukunftsstunde uns zur Gegenwart geworden, als sie sich in ihrem Zauber schon entblättert. Aber es ist wahr, sie gewinnt ihn wieder, wenn unsere Seele umfassend genug ist, sie erstrahlt in gut geplanten Perspektiven, vorausgesetzt, wir haben sie weit genug hinter uns gelassen, auf den alten Pfaden unseres Gedächtnisses.
    So mag die auf Wolkengrund gebaute Stadt, der entgegen wir die Schritte unserer ungeduldigen Hoffnungen und den Lauf unserer ermüdeten Stuten zu größerer Eile angetrieben haben, nach dem Überschreiten der Höhe von neuem widerklingen in verschleierten Harmonien, wenn auch die Banalität ihrer Straßen, das Stillose ihrer Häuser (und doch schienen sie so nahe

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